Es gibt sie noch, die Bismarck-Verehrer und -Verklärer. Aber man muss heute schon ein bisschen nach ihnen suchen. In Leipzig zum Beispiel, wo die AfD jüngst einen Antrag im Stadtrat eingereicht hat. Die Fraktion fordert "eine zeitnahe Benennung einer dem Namensgeber würdigen, zentral gelegenen Örtlichkeit im Leipziger Stadtgebiet".
Zwar gibt es seit 2001 wieder eine Bismarckstraße in Leipzig, doch die befindet sich in Großzschocher, in einem nicht gerade fürstlichen Industriegebiet am Rand der Stadt. Kein würdiger Ort für einen Mann, findet die AfD, der nicht nur "wegweisende Modernisierungen Deutschlands" eingeleitet habe, sondern auch durch seine "diplomatische Beharrlichkeit" ein Vorbild sei - "auch für heutige Politiker in aktueller Situation".
In Wilhelmshaven bekommt der Kanzler neue Kleider
Man kann auch nach Weißenfels in Sachsen-Anhalt schauen. Hier hat ein Verein fast 400 000 Euro gesammelt, um den verfallenen Bismarck-Turm wieder herzurichten. Nach zehn Jahren Arbeit wird Ende Juni Wiedereinweihung gefeiert, mit Hüpfburg, Karussell und Cocktailbar, die Musik kommt von DJ Ameise.
Oder Wilhelmshaven. Dort wird nach erbittertem Streit nun ein im Zweiten Weltkrieg zerstörtes Bismarck-Denkmal wieder aufgestellt. Zum historischen Vorläufer gibt es allerdings einen feinen Unterschied: Die Pickelhaube ist weg, der Reichsgründer trägt jetzt Mantel statt Uniform. Des Kanzlers neue Kleider. Auch das ist eine Geschichte, die davon erzählt, welche Verrenkungen die Erinnerung an Bismarck heute erfordert.
Der Bismarck-Mythos ist nicht tot - man sieht ihn bloß kaum noch
Nein, der Bismarck-Mythos ist nicht tot. Im Jahr des 200. Geburtstags des Reichsgründers ist er nur so blass geworden, dass man ihn kaum noch sieht.
Klar, es wird eine internationale Konferenz zum 200. Geburtstag geben, eine Sonderbriefmarke und einen Festakt in Berlin. Der Bundespräsident wird sprechen, auch der Finanzminister kommt. Natürlich erscheint auch ein dicker Stapel neuer oder neu aufgelegter Bücher. Aber gemessen daran, wie der Mann dieses Land einst umgetrieben hat, wirkt das Gedenken doch eher wie eine pflichtschuldige Übung, wie die leidenschaftslose Reaktion auf einen kalendarischen Zufall.
"In den Köpfen der Menschen", sagt der Bismarck-Biograph Christoph Nonn, "spuken immer noch Bilder umher, die Bismarck entweder als Super-Helden oder als Super-Schurken zeigen: als denjenigen, der im Alleingang das Deutsche Reich gegründet hat, oder als denjenigen, der die Nation auf die schiefe Ebene gebracht hat, auf der sie dann in Richtung Nationalsozialismus gerutscht ist." Doch in der Wissenschaft und der öffentlichen Diskussion sind diese Pole abgeschmolzen. Es ist ruhig geworden um den Reichsgründer. Bismarck ist ein Dämon außer Dienst.
Bismarck: eine Palme, ein Südsee-Archipel, die Hauptstadt von North Dakota
Wer sich noch einmal Bismarcks einstige Rolle als Über-Ich der Deutschen vor Augen führen möchte, muss nur einen Blick auf die Landkarte werfen, manchmal reicht sogar die Speisekarte. Ungezählt sind die Bismarck-Straßen, -Plätze, -Ringe und -Alleen, die Bismarck-Apotheken, Bismarck-Heringe, Bismarck-Steine, Bismarck-Eichen und Bismarck-Türme, die nach wie vor überall da stehen, wo heute Deutschland ist oder früher Deutschland war.
Und der Name des Eisernen Kanzlers hat es sogar über die Grenzen des von ihm 1871 zusammengeschweißten Reiches hinaus geschafft. Es gibt eine Bismarck-Strait in der Antarktis und eine Rua Bismarque in Brasilien, nach Bismarck ist eine Palme auf Madagaskar, ein Archipel in der Südsee und die Hauptstadt des US-Bundesstaates North Dakota benannt. "Bismarck ist der Politiker, der weltweit am stärksten in den geographischen Raum eingeschrieben ist", glaubt Ulf Morgenstern von der Otto-von-Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh.