Vor dem Urteil im Fall Tuğçe:Rangeleien unter den Zuschauern im Gericht

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  • Vor dem Landgericht in Darmstadt geht der Fall Tuğçe an diesem Dienstag zu Ende. Das Urteil gegen den Angeklagten Sanel M. wird mit Spannung erwartet.
  • Der 18-Jährige hatte in der Verhandlung eingeräumt, die Studentin im November 2014 auf dem Parkplatz eines Fastfood-Restaurants geschlagen zu haben. Strittig ist jedoch, ob er mit dem Tod der jungen Frau habe rechnen müssen.
  • Vor der Urteilsverkündung ist es im Gerichtsgebäude zu Rangeleien gekommen.

Um 11:30 Uhr wird an diesem Dienstag das Urteil im Fall Tuğçe Albayrak fallen. Vor dem Landgericht Darmstadt geht ein Prozess zu Ende, der extrem großes Aufsehen erregt hat - und der nicht nur deshalb für das Gericht eine Herausforderung war.

Die Stimmung im Prozess war stets geladen. Das zeigt sich auch am letzten Verhandlungstag. Vor Beginn der Verhandlung kommt es zu Tumulten. Einige Zuschauer hätten sich in der Warteschlange vor dem Gerichtssaal vordrängeln wollen, sagte ein Sprecher des Gerichts. Als andere mit Unverständnis darüber reagiert hätten, habe es Beleidigungen und Rangeleien gegeben. Die Polizei wurde alarmiert. Als die Beamten kamen, kehrte wieder Ruhe ein.

In der Öffentlichkeit entwickelte sich schon vor der Verhandlung ein klares Bild von dem Fall: Auf der einen Seite eine junge Studentin, die zwei Mädchen zu Hilfe kommen wollte und ihren selbstlosen Einsatz mit dem Leben bezahlte. Auf der anderen Seite der Täter - ein schlechter Schüler, gewalttätig, polizeibekannt.

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Fast sieben Monate ist es jetzt her, dass die Studentin Tuğçe Albarak in Offenbach zu Tode kam. Eine Chronologie der Ereignisse in dem Fall.

Dass diese Schwarz-Weiß-Geschichte womöglich nicht den Tatsachen entspricht, wurde im Laufe der Verhandlungen deutlich. So sagten Zeugen vor Gericht aus, dass Tuğçe und ihre Freundinnen den späteren Täter angepöbelt hätten. Dass die Aggression nicht allein von Sanel M. und seinen Kumpels ausgegangen war - sondern dass sich die beiden Gruppen gegenseitig hochgeschaukelt hätten.

Für die Richter war es sehr schwierig, sich ein objektives Bild vom Tathergang zu machen. Zwar hat Sanel M. eingeräumt, Tuğçe geschlagen zu haben. Er beteuerte jedoch, er habe nicht damit gerechnet, dass sie dadurch zu Tode kommen könnte. Ob der Angeklagte damit habe rechnen müssen, ist die zentrale Frage, die über die Höhe des Strafmaßes entscheiden wird. Allerdings gab es kaum "neutrale" Beobachter, die hätten berichten können, was sich am 15. November 2014 auf dem Parkplatz des Schnellrestaurants in Offenbach zugetragen hat. Die meisten vor Gericht geladenen Zeugen waren entweder Freunde von Tuğçe oder Freunde des Angeklagten.

Was hat die Beweisaufnahme während des Prozesses ergeben? Mit welcher Strafe muss der 18-jährige Angeklagte rechnen? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Was wird Sanel M. vorgeworfen?

Er ist vor dem Landgericht Darmstadt wegen Körperverletzung mit Todesfolge angeklagt. Zum Prozessauftakt hat er gestanden. Das könnte sich strafmildernd auswirken.

Woran starb Tuğçe genau?

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Der Tod von Tuğçe Albayrak war lange Zeit eine ganz eindeutige Schwarz-Weiß-Geschichte. Inzwischen ist klar: So einfach ist es nicht.

Von Susanne Höll

Die 22 Jahre alte Lehramtsstudentin stürzte infolge des Schlages, zog sich schwere Kopfverletzungen zu und starb später in einem Krankenhaus. Todesursache war eine Hirnblutung. Diese wurde nach Aussage eines Gutachters durch den harten Aufschlag des Kopfes auf den Boden ausgelöst. Möglicherweise hatte Tuğçe durch die Ohrfeige einen Blackout, so dass sie ohne Abwehrreaktion stürzte. Nicht für den Tod ursächlich waren die Ohrringe der jungen Frau. Zwar bohrte sich beim Sturz ein drei Zentimeter langes Teil in den Kopf. Dies führte laut Gutachter aber nicht zur Hirnblutung.

Wieso erregte der Fall so großes Aufsehen?

Tuğçe soll auf der Toilette des Restaurants zwei damals 13-jährigen Mädchen geholfen haben, Sanel M. und dessen Freunde loszuwerden. Dass sie später zu Tode kam, wurde mit diesem Vorfall in Verbindung gebracht, ihr Verhalten als Beispiel für Zivilcourage gefeiert. Im Prozess blieb jedoch offen, ob die Mädchen tatsächlich die Hilfe Tuğçes benötigt hatten. Zudem wurde klar, dass sich die Gruppe um Sanel M. und die Gruppe um Tuğçe mehrfach gegenseitig beleidigt und provoziert hatten.

Welche Rolle spielten die Zeugen?

Die Zeugen äußerten sich vor Gericht oft widersprüchlich, wichen von ihren früheren Aussagen ab oder stellten sich offensichtlich auf die Seite Tuğçes oder die Seite des Angeklagten. "Nur mit Zeugenbeweisen alles aufzuklären wäre äußerst schwierig gewesen", sagte Oberstaatsanwalt Alexander Homm. Nutzen konnten die Prozessbeteiligten allerdings Aufnahmen mehrerer Überwachungskameras am Tatort.

Wird Sanel M. als Erwachsener oder als Jugendlicher behandelt?

Anklage, Nebenklage und Verteidigung plädierten auf eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht, da Sanel M. zum Zeitpunkt der Tat gerade 18 Jahre und zehn Tage alt war und bei ihm eine Reifeverzögerung vorliegt. Es gilt als wahrscheinlich, dass das Gericht dieser Auffassung folgen wird.

Welches Strafmaß muss er erwarten?

Das Jugendstrafrecht sieht für gefährliche Körperverletzung mit Todesfolge ein Strafmaß zwischen sechs Monaten und zehn Jahren vor. Die Staatsanwaltschaft forderte in ihrem Plädoyer drei Jahre und drei Monate Jugendgefängnis. Die Nebenklage deutete an, dass sie eine höhere Strafe begrüßen würde. Die Verteidigung plädierte auf eine Jugendstrafe von einem Jahr, die zur Bewährung ausgesetzt werden soll. Der Bewährungszeitraum solle zwei Jahre betragen.

Bereut Sanel M. seine Tat?

Aufrichtige Reue ist ein wichtiger Bestandteil für die Bemessung des Strafmaßes. Gleich zu Beginn des Prozesses entschuldigte sich Sanel M. unter Tränen. Die Nebenklage wertete dies als Prozesstaktik. Auch nach den Plädoyers sagte der Angeklagte, der Schlag sei der schlimmste Fehler seines Lebens gewesen. Sein Anwalt Heinz-Jürgen Borowsky erklärte, ihm liege eine schriftliche Entschuldigung an die Familie Tuğçes vor, die er bislang nicht veröffentlicht habe, weil diese angesichts der "Treibjagd" einiger Medien ohnehin nur gegen seinen Mandanten ausgelegt worden wäre.

Wie geht Tuğçes Familie mit der Tat um?

Vater, Mutter und die beiden Brüder leiden nach Tuğçes Tod schwer unter dem Verlust - den Prozess verfolgten sie sichtlich gezeichnet, vor allem die Mutter weinte immer wieder. Die Eltern sind arbeitsunfähig und in psychologischer Behandlung. Der jüngere Bruder hat sein Studium unterbrochen, der ältere seine Lehre abgebrochen.

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