US-Pfadfinder:Das wahre Ausmaß der "Perversion Files"

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Die Boy Scouts of America gibt es seit 109 Jahren - seit Jahren ist bekannt, dass dort Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht wurden. (Foto: David Manning/Reuters)
  • Die Boy Scouts of America haben wohl versucht, einen Skandal zu vermeiden und haben Missbrauchsfälle unter Verschluss gehalten.
  • Im Zeitraum von 1944 bis 2016 soll es insgesamt 7819 Verdächtige und 12 254 Opfer gegeben haben - das offenbaren die sogenannten "Perversion files". Die Dunkelziffer könnte noch viel höher sein.
  • Jetzt könnte die Zahl der Klagen rapide ansteigen: Im US-Fernsehen laufen derzeit Werbespots von Kanzleien, die mutmaßliche Opfer auffordern, sich zu melden und Klagen anzustrengen.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Wenn US-Amerikaner über einen feinen Kerl reden, der integer ist und charakterlich über jeden Zweifel erhaben, dann nennen sie ihn "Boy Scout": Pfadfinder. Die Boy Scouts of America (BSA) gibt es seit 109 Jahren, sie richten sich vor allem an Jungen und junge Männer. Mehr als 110 Millionen Amerikaner hatten in ihrem Leben irgendwann mit dieser Vereinigung zu tun, die Slogans "Allzeit bereit" und "Jeden Tag eine gute Tat" sind weltweit bekannt. Seit Jahren ist bekannt, dass Kinder und Jugendliche dort sexuell missbraucht worden sind. Nach einer Untersuchung von Listen, die die Boy Scouts intern führten, deutet sich nun an, dass alles noch viel schlimmer sein könnte als bislang befürchtet.

Die Los Angeles Times hatte vor sieben Jahren enthüllt, dass es bei den BSA eine Art schwarze Liste mit den Namen von Erwachsenen gibt, denen während ihrer Zeit als Angestellte, freiwillige Helfer oder auch schon als Bewerber sexuelle Gewalt vorgeworfen wurde und die deshalb keinen Kontakt zu Kindern haben sollten. Von 1900 Fällen war damals die Rede. Nun offenbart eine ausführlichere Untersuchung der sogenannten "Perversion Files" das wahre Ausmaß: Es soll im Zeitraum von 1944 bis 2016 insgesamt 7819 Verdächtige und 12 254 Opfer gegeben haben.

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Wohlgemerkt: Das sind nur die Fälle, die in den internen Daten der BSA auftauchen. Der Anwalt Paul Mones, der vor einigen Jahren für seine Mandanten im US-Bundesstaat Oregon ein Schmerzensgeld von 20 Millionen Dollar von BSA erstritten hat, schätzt, dass weniger als ein Viertel der mehr als 400 Klagen seit den Enthüllungen im Jahr 2012 mit Tätern zu tun hatten, die in der Datenbank vermerkt sind - was laut Mones zum einen daran liegt, dass die BSA einige Listen gelöscht hätten, zum anderen daran, dass viele Fälle gar nicht gemeldet worden seien.

Mehr als zwei Millionen minderjährige Mitglieder

Dass diese Dossiers existieren, ist kein Skandal. 2,2 Millionen minderjährige Mitglieder haben die BSA, und es ist durchaus wünschenswert, dass die Vereinigung all jene Leute überprüft, die mit den Kindern arbeiten wollen - und dass sie Listen all jener erstellt, denen man besser keine Jugendlichen anvertrauen sollte. "Diese Listen haben zahlreiche Täter davon abgehalten, der Vereinigung beizutreten oder nach Verfehlungen wieder aufgenommen zu werden", heißt es in einem Statement von BSA.

Nur: Die Vereinigung hatte diese Listen, die sie seit 100 Jahren führt, unter Verschluss gehalten - nach eigenen Angaben, um Opfer und Zeugen zu schützen und auch deshalb, damit niemand fälschlicherweise angeklagt würde. Die Enthüllungen der Los Angeles Times im Jahr 2012 zeigten jedoch, dass die BSA in Hunderten Fällen versucht hatten, einen größeren Skandal mit nicht gerade integren Mitteln zu vermeiden: Die Organisation hatte Übergriffe nicht der Polizei gemeldet, sie hatte mutmaßliche Täter nicht angezeigt, sondern lediglich zum Rücktritt gedrängt und die Spuren sexuellen Missbrauchs verwischt.

Die Zeitung veröffentlichte damals die ihr vorliegenden Daten, in denen 1900 Fälle sexuellen Missbrauchs teils detailliert beschrieben sind, und auch die Reaktionen der BSA darauf. Darunter auch ein Fall aus dem Jahr 2012, in dem ein zwölf Jahre alter Junge von einem Mitarbeiter missbraucht wurde und der durchaus als stellvertretend gesehen werden darf: Die Vorgesetzten ertappten ihn auf frischer Tat, informierten aber weder die Polizei noch die Eltern des Jungen. Der Fall kam als eineinhalbseitiger Report in die Datenbank.

Es hat damals eine Welle an Klagen gegeben, die nun zu einem Tsunami anwachsen dürfte, der die Boy Scouts of America existenziell gefährden könnte. Im US-Fernsehen laufen derzeit Werbespots von Kanzleien, die mutmaßliche Opfer auffordern, sich zu melden und Klagen anzustrengen, selbst wenn ihre Fälle nicht in der Datenbank vermerkt sind. Allein diese Spots bedeuten einen gewaltigen Schaden für die Vereinigung, die zwar noch immer mehr als 2,2 Millionen Kinder betreut, deren Mitgliederzahl aber auch aufgrund der Enthüllungen stark rückläufig ist.

Manche Verjährungsfristen wurden verlängert

Finanziell brisant für die Boy Scouts of America ist nicht nur der Umstand, dass es viel mehr Fälle und Opfer gibt als bislang angenommen. Die neuesten Enthüllungen fallen zudem in eine Zeit, in der Bundesstaaten wie New York und New Jersey gerade beschlossen haben, die Verjährungsfristen für sexuellen Missbrauch zu verlängern. In New York zum Beispiel hatten Opfer bisher nach dem 23. Geburtstag keine Chance mehr auf ein Gerichtsverfahren, diese Frist wurde um 22 Jahre verlängert. In anderen Staaten wie Kalifornien und Pennsylvania sind ähnliche Gesetze in Arbeit.

Zwei Versicherungsfirmen haben bereits angekündigt, den Schaden, der den Boy Scouts bei Verurteilungen und außergerichtlichen Einigungen entstehen würde, nicht übernehmen zu wollen, weil die Daten zeigten, dass BSA zahlreiche Missbrauchsfälle hätte verhindern können. "Wir prüfen gerade sämtliche Optionen, wie wir die Opfer entschädigen und unsere Mission, Jugendlichen zu dienen, weiter erfüllen können", heißt es in einem Statement der BSA, die eine Milliarde Dollar Rücklagen haben sollen. Es heißt, im schlimmsten Fall drohe die Zahlungsunfähigkeit.

© SZ vom 23.05.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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