Stilkritik zu E-Scooter:Triumphwagen der Moderne

Lesezeit: 2 min

Tatendurstig und aufrecht: So besteht der moderne Mensch in der Gesellschaft. (Foto: dpa)

Kerzengerader Stand, durchgedrücktes Kreuz, den Blick nach vorn gerichtet: Die Fahrt auf einem E-Scooter führt erstaunlicherweise zum aufrechten Bürger.

Von Violetta Simon

In der modernen Gesellschaft wird es immer wichtiger, Haltung zu zeigen. Einmal erschöpft an den Kaffeeautomaten geschmiegt, schon wird einem mangelndes Engagement unterstellt. Abhilfe schaffen Workshops, in denen man die Kunst der Körpersprache erlernt. Wer tatendurstig und agil rüberkommen will, wählt den aufrechten Stand, die Füße etwas geöffnet, mit erhobenem Kopf und leicht nach oben gerecktem Kinn.

Nun kann man aber nicht pausenlos herumstehen und eine gute Figur machen. Schließlich soll der Mensch etwas bewegen, zuallererst sich selbst, und das möglichst dynamisch. Die Lösung rollt heran: Neuerdings cruisen auffallend viele selbstbewusst wirkende Personen durch die Städte. Sie strahlen Zuversicht aus - und sie fahren E-Scooter.

Unwahrscheinlich, dass sie alle kürzlich befördert wurden, im Lotto gewonnen oder sich verliebt haben. Vielmehr ist es die Wirkung ihrer Körperhaltung, die sie dabei einnehmen. Aufsteigen, anschieben, und sssssssssssst! Schon geht es dahin: Schneidig und smart wie Helios, der in seinem goldenen Triumphwagen über das Himmelsgewölbe fährt, zischt man durch die Straßen. Kerzengerader Stand, durchgedrücktes Kreuz, den Blick nach vorn gerichtet - dazu zwingt einen das Gefährt nämlich.

Balanceakt in der vierten Position: Wer die Füße hintereinander abstellt, geht nicht so leicht in die Knie. (Foto: dpa)

Das Geheimnis liegt im schmalen Trittbrett, das jede Fahrt zum Balanceakt macht. Auf dem E-Scooter ist für beide Füße kein Platz, man muss sie hintereinander abstellen. Allerdings nicht wie auf einem Skateboard (zu instabil!), eher wie eine Ballerina: Standbein vorne, Anschiebe-Bein hinten, Gewicht auf beide Füße verteilt, die Zehen des hinteren nach außen gedreht.

Schon mal versucht, dabei wie ein aufgestellter Lauch durchzuhängen? Keine Chance. So wird auf dem E-Scooter der urbane Mensch zu einer besseren Version seiner selbst. Ein rollender Fels in der Brandung. Ein aufrechter Bürger.

Der E-Scooter eine Erfindung der Krankenkassen?

Wer weiß, am Ende macht der E-Scooter sogar noch die Krankenkassen glücklich. Einer Erhebung der DAK zufolge gehen immerhin mehr als drei Fehltage pro Kopf auf Beschwerden des Muskel-Skelett-Apparates zurück. Was das kostet! Dabei wäre es so einfach, der Volkskrankheit Rückenschmerz vorzubeugen. Physiotherapeuten empfehlen, die Tiefenmuskulatur zu trainieren, durch Kraft- und Balanceübungen auf instabiler Unterlage. Balanceübung, instabile Unterlage - na, klingelt's?

Ist der E-Scooter womöglich gar nicht gesundheitsgefährdend, sondern gar eine Erfindung der Krankenkassen? Gibt es ihn schon bald auf Rezept, weil er den Menschen über seinen Spieltrieb zum Rückentraining zwingt? Zwar würden die Menschen dann noch weniger zu Fuß gehen. Aber zumindest stehen sie dabei gerade und machen eine gute Figur. Gezwungenermaßen.

© SZ vom 16.09.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusMobilität
:Geh weg!

Auf dem Gehsteig wird längst nicht nur gegangen, sondern auch gesessen, geradelt, geschoben - und gerollert. Über eine neue Form des Verteilungskampfes in deutschen Städten.

Texte von Violetta Simon und Beate Wild, Illustrationen von Jochen Schievink

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: