Die Gewalt eskaliert am Ende der großen Pause. Es wird beleidigt, geschubst, geschlagen, getreten und gespuckt. Dutzende Schüler sind beteiligt, Hunderte schauen zu. Lehrer, die schlichten wollen, schaffen es fast nicht, sich durch die Menschentraube der Gaffer zu den prügelnden Schülern vorzuarbeiten. Auch danach kommt die Schule nicht zur Ruhe, es gibt weitere Vorfälle, bei denen es zu massiver Gewalt kommt. Prügelnde Schüler werden von Dutzenden Kameraden angefeuert, in einem Fall sollen sich sogar Eltern eingemischt haben.
All das soll sich Ende vergangenen Jahres an einer Gesamtschule in Mönchengladbach zugetragen haben, die SZ berichtete. Werden solche Gewaltexzesse publik, hieß es in den vergangenen Jahren stets, das seien Einzelfälle. Forscher verwiesen auf Studien und Polizeistatistiken, denen zufolge Jugendkriminalität und Jugendgewalt tendenziell rückläufig seien.
9000 Neuntklässler befragt
Doch jetzt haben Wissenschaftler des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN) andere Erkenntnisse gewonnen. Ihren Zahlen zufolge sind die Kriminalität und speziell die Gewaltdelikte bei Jugendlichen erstmals seit Jahren wieder gestiegen. Die Forscher haben im Jahr 2017 fast 9000 Neuntklässler befragt. Die detaillierte Auswertung liegt der SZ vor. Zwar wurden nur Schüler in Niedersachsen erfasst, die Forscher sagen jedoch, dass sich daraus wertvolle Erkenntnisse ableiten lassen, weil Niedersachsen ein Flächenland mit acht Millionen Einwohnern ist, mit sowohl städtischen als auch ländlichen Strukturen. Da es, nach den Jahren 2013 und 2015, bereits die dritte Untersuchung dieser Art ist, sind Zeitvergleiche gut möglich.
Mehr als 27 Prozent der Jugendlichen haben bei der Erhebung 2017 angegeben, bereits mindestens einmal Opfer eines Gewaltdeliktes geworden zu sein. Mehr als 14 Prozent haben in den vergangenen zwölf Monaten eine Gewalttat erlebt. Das ist ein signifikanter Anstieg im Vergleich zu den beiden früheren Befragungen (siehe Grafik). Erfasst haben die Forscher Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt und mehrere Arten von Körperverletzung. Am häufigsten genannt wurde die Körperverletzung durch eine einzelne Person, mehr als 19 Prozent der Jugendlichen haben das bereits einmal erlebt. Deutlich seltener kommen Raub, Erpressung, sexuelle Gewalt, Körperverletzung mit Waffe oder Körperverletzung durch mehrere Personen vor. Aus der Studie ergibt sich, dass der Anteil der Gewalttaten, die in der Schule verübt werden, über die Jahre 2013 bis 2017 leicht rückläufig ist. Der Anteil der Gewalttaten, die an außerschulischen Orten passieren, steigt hingegen.
Das KFN hat auch Daten zum Täterverhalten erhoben. Fast 18 Prozent der Jugendlichen gaben im Jahr 2017 an, mindestens eine Gewalttat in ihrem Leben begangen zu haben. Knapp acht Prozent wurden in den zwölf Monaten vor der Erhebung gewalttätig. Das sind jeweils deutliche Steigerungen im Vergleich zu der Studie von 2015. Im Vergleich zu 2013 ergibt sich eine leichte Steigerung. Die alleine begangene Körperverletzung ist das bei Weitem am häufigsten vorkommende Delikt. Fast 16 Prozent der Befragten gaben an, damit bereits mindestens einmal auffällig geworden zu sein. Andere abgefragte Delikte sind der Befragung zufolge zehn- bis 25-mal seltener, aber auch für Raub und sexuelle Gewalt haben die Forscher zwischen 2015 und 2017 signifikante Zuwächse feststellen können.
Immer mehr Schüler führen Waffen mit sich
"Der Anstieg im Gewaltverhalten geht einher mit anderen negativen Entwicklungen: die Zunahme von Schulabsentismus, vermehrter Drogenkonsum sowie ein genereller Anstieg von Opfererfahrung Jugendlicher in verschiedenen sozialen Kontexten", sagt Sören Kliem vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, der dort die Arbeitsgruppe Dunkelfeldmonitoring leitet. Von Dunkelfeld sprechen Kriminologen dann, wenn die Polizei keine Kenntnis von den Straftaten erhält. Gerade Jugendgewaltdelikte werden häufig nicht angezeigt. Im Hellfeld, also in der Polizeilichen Kriminalstatistik, die in Niedersachsen vor einigen Wochen veröffentlicht wurde, ist die registrierte Gewaltkriminalität jugendlicher Täter von 2017 bis 2018 um 3,4 Prozent zurückgegangen. Im Vergleich mit dem Jahr 2015 ergibt sich allerdings ein Anstieg von 18 Prozent, eine Tendenz also, die sich mit den Zahlen des KFN deckt.
Auffällig ist, dass immer mehr Schüler Waffen mit sich führen - meist Messer, Tränengas oder Pfefferspray. "Dieses Phänomen betrifft sowohl den Freizeitbereich als auch die Schule", sagt Kliem. Auch wenn die Messer selten tatsächlich eingesetzt werden, empfinden sie offenbar viele Jugendliche als Bedrohung, gegen die sie sich nur wappnen können, indem sie sich selbst ein Messer zulegen.
Auch Jutta Anton kennt das Problem, vor allem durch Gespräche mit der Polizei. Anton ist Schulsozialarbeiterin an einer Oberschule in Oldenburg und sitzt im Vorstand der Landesarbeitsgemeinschaft Schulsozialarbeit Niedersachsen, die Fortbildungen organisiert, Schulen und Schulämter berät und alle beteiligten Stellen miteinander vernetzt. "Ich kann nicht sagen, dass die Zahl der Gewaltfälle an meiner Schule gestiegen wäre, aber bei den Jugendlichen das Bewusstsein für gewaltfreie Konfliktlösungsstrategien zu schärfen, ist dennoch wichtig. Zwar ist in den vergangenen Jahren eine Menge passiert, aber wir müssen die Kompetenzen im präventiven Bereich noch weiter stärken, gerade in sogenannten Brennpunktschulen", sagt Anton.
Die Forscher des KFN weisen zwar darauf hin, dass die Jugendkriminalität unabhängig von Schultyp, Herkunft und Geschlecht gestiegen ist. Allerdings gibt es zum Beispiel zwischen Jungen und Mädchen drastische Unterschiede. So gaben nur 3,6 Prozent der Mädchen an, in den vergangenen zwölf Monaten eine Gewalttat verübt zu haben, aber 12,2 Prozent der Jungen. "Risikosuche, Gewaltaffinität und gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen", so heißt es in der Studie, seien stärker verbreitet als in früheren Jahren.
Integration in der Schule stagniert
Zwei weitere Differenzierungen ergeben sich aus den Daten: Jugendliche, die einen niedrigen Bildungsabschluss anstreben, werden deutlich häufiger Gewaltopfer oder Gewalttäter als Jugendliche, die einen höheren Bildungsabschluss anstreben. Außerdem sind Schüler mit Migrationshintergrund in beiden Statistiken überrepräsentiert. Die Forscher haben auch versucht, die Ergebnisse nach einzelnen Migrantengruppen zu differenzieren, allerdings waren hier die Fallzahlen zum Teil so klein, dass sich keine verlässlichen Aussagen ableiten lassen. "Unsere Zahlen zeigen allerdings deutlich, dass die Integration von Jugendlichen mit Migrationshintergrund stagniert. Hier besteht Handlungsbedarf, etwa durch eine Verbesserung der Bildungschancen", sagt Forschungsgruppenleiter Kliem. Seine Vermutung, für die er jedoch weitere Forschungen für nötig hält: Gerade in Migrantengruppen, die schlecht integriert sind, steigt die Neigung zu kriminellen Handlungen.
Während die Zahl der Jugendlichen, die angeben, physische Gewalt zu erfahren, nur leicht angestiegen ist, nehmen psychische Gewalt und das sogenannte Cyberbullying zu. Darunter fallen Methoden der Ausgrenzung und Bloßstellung, bei denen das Internet und soziale Medien eine Rolle spielen. Fast die Hälfte der Jugendlichen gab an, das in den vergangenen sechs Monaten mindestens einmal erlebt zu haben. Fast 20 Prozent litten unter sexuellem Cyberbullying. Unter diesen Begriff fassen die Forscher etwa die Verbreitung entblößender Fotos, Videos oder die Aufforderung zu sexuellen Handlungen, durch Mitschüler oder durch Personen außerhalb der Schulumfelds.
Falsche Freunde führen zu mehr Straftaten
Experten beobachten das zunehmende Cyberbullying mit Sorge, denn anders als beim klassischen Mobbing hört die Qual für die Betroffenen nach der Schule nicht auf, sondern setzt sich online fort. Ein Konzept, um Cybermobbing entgegenzutreten, ist der sogenannte "No Blame Approach", den auch Schulsozialarbeiter in Niedersachsen anwenden. Dieser Ansatz will eine klare Täter-Opfer-Frontstellung vermeiden und stattdessen alle Beteiligten in einen Austausch miteinander bringen. "Aus jahrelanger Praxis wissen wir, dass es hilfreich ist, bei der Auflösung von Mobbing-Dynamiken alle Beteiligten einzubinden: Die Opfer, Mitläufer, Unbeteiligte und eben auch diejenigen, die das Mobbing betreiben", sagt Sozialpädagogin Anton.
Die Forderung, Problemschüler zu integrieren, ergibt sich auch aus der Studie des KFN. Immer mehr Jugendliche bewegten sich in problematischen Peer-Groups, also in Freundeskreisen, in denen Straftaten ein Mittel sind, um sich in der Gruppe Anerkennung zu verschaffen. Mehr als acht Prozent der Befragten haben mindestens fünf kriminelle Freunde. Die Forscher alarmiert das, weil aus den niedersächsischen Daten hervorgeht, dass Jugendliche, die in delinquente Freundeskreise eingebunden sind, selbst ebenfalls oft strafrechtlich in Erscheinung treten.
"Auch wenn Niedersachsen meist recht gut dem Bundesdurchschnitt entspricht", wie Kliem sagt, regen er und sein Team eine Untersuchung für alle Bundesländer an. "Wir würden uns freuen, wenn es von Seiten der Politik Unterstützung dafür gäbe. Die letzte größere, bundesweite Untersuchung zur Jugendkriminalität ist schon mehr als zehn Jahre alt."