Schlangen-Drama in Herne:"Eine Kobra ist kein marodierendes Vieh"

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Wie gefährlich ist die seit Tagen entwischte Kobra in Herne? Antworten auf die wichtigsten Fragen vom Leiter der Münchner Reptilienauffangstation.

Von Violetta Simon

Vor dem Wohnhaus in Herne bereitet sich ein Schlangenexperte darauf vor, nach der entflohenen Kobra zu suchen. (Foto: AFP)

Die Begegnung mit einer Kobra im Treppenhaus - nicht unbedingt das Nächstliegende, wenn man gerade die Post aus dem Briefkasten holt. Und doch sah sich die Bewohnerin eines Mehrfamilienhauses in Herne im Ruhrgebiet am Sonntag einer hochgiftigen Monokelkobra gegenüber, die sich aufstellte und fauchte. Seitdem ist die Schlange verschwunden. Noch am selben Tag wurde das Gebäude evakuiert, ebenso drei weitere Häuser, die über die Keller miteinander verbunden sind. Etwa 30 Bewohner mussten ihre Wohnungen verlassen und sich eine private Übernachtungsmöglichkeit suchen oder in eine Notunterkunft ausweichen. Experten sollen das Tier nun finden. Doch wie gefährlich ist die Situation wirklich? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Wo kam die Kobra her?

Die mindestens 1,40 Meter lange Kobra mit der charakteristischen Zeichnung im Nacken soll einem Mieter entwischt sein, der weitere 20 Giftschlangen zu Hause hielt. Nach Angaben der Stadt Herne hatte er für die Haltung der Schlangen eine Erlaubnis, zudem wurde regelmäßig die artgerechte Haltung kontrolliert. Etwas muss trotzdem schiefgelaufen sein. Wie die Schlange entkommen konnte, ist unklar. Der mutmaßliche Besitzer bestreitet, dass das Tier ihm gehört.

Kommt es häufig vor, dass Schlangen aus dem Terrarium entwischen?

So gut wie nie. In seiner 25-jährigen Berufserfahrung hat Markus Baur, Chef der Reptilienauffangstation München, nicht einen Fall erlebt. 2005 war im Nymphenburger Schlosspark in München eine grüne Mamba gesichtet worden, es gab einen Polizeiaufruf, der halbe Park wurde gesperrt. Bis sich herausstellte, dass es sich um eine harmlose Ringelnatter handelte. Zuletzt war 2010 in Mülheim an der Ruhr eine Kobra ausgerissen. Der Besitzer, ein unerfahrener 19-Jähriger, hatte die bleistiftdünne und dennoch hochgiftige Babyschlange in einem ausrangierten Aquarium gehalten, aus dem sie offenbar durch eine kleine Kabelöffnung im Deckel entwischte.

Ein von einem Hausbewohner zur Verfügung gestelltes Handyfoto zeigt die entweichende Monokelkobra im Treppenhaus. (Foto: dpa)

Welche Maßnahmen werden ergriffen?

Im Fall der Babykobra wurde damals die Straße gesperrt, das Mehrfamilienhaus evakuiert, die Dachgeschosswohnung des Schlangenhalters ausgeräumt und komplett entkernt, jede Ritze und jedes Loch untersucht, etwas später das Haus versiegelt. In Herne wurde Mehl am Boden verteilt, um nachzuvollziehen, ob die Kobra sich im Haus bewegt und wohin. Zur Sicherheit hat die Feuerwehr noch die Haustürschlösser ausgetauscht, um zu verhindern, dass Unbefugte eindringen.

Wie teuer ist so eine Aktion?

In Mülheim beliefen sich die Gesamtkosten des Einsatzes auf rund 100 000 Euro. Stadtsprecher Volker Wiebels zufolge kostete allein die Arbeit der Feuerwehr bei der Evakuierung des Hauses 850 Euro pro Stunde. Hinzu kamen Entrümpler, Bauunternehmer, Möbeltransporter. Die Stadt Mülheim stellte dem Besitzer später eine Rechnung von mehr als 21 000 Euro für den tagelangen Einsatz der Feuerwehr.

Was sollen die Bewohner der umstehenden Häuser beachten?

"Bleiben Sie möglichst auf befestigten Wegen und vermeiden Sie es, durch hohes Gras oder dichten Bewuchs zu gehen", rät der Herner Ordnungsdezernent Johannes Chudziak. In einem Radius von 500 Metern rund um die Wohnhäuser sei besondere Vorsicht geboten. Türen und Fenster sollten geschlossen bleiben.

Und wenn man auf eine giftige Schlange trifft?

Lärm und Erschütterungen können die Schlange vertreiben. Dennoch sollte man vermeiden, das Tier zu erschrecken. "Auf keinen Fall sollte man versuchen, die Kobra anzufassen oder aus der Nähe zu fotografieren", empfiehlt Baur. Stattdessen ohne Hektik einen Schritt zurücktreten, dann hat das Tier weniger Angst und somit weniger Grund zur Aggression. Unbedingt sofort den Notruf 110 oder 112 wählen. Wenn möglich, in der Nähe bleiben und beobachten, ob beziehungsweise wohin die Schlange sich entfernt.

Markus Baur, Leiter der Münchner Reptilienauffangstation, in seinem Büro. (Foto: Florian Peljak)

Wie fängt man eine Schlange?

Am besten mit einem Schlangenhaken und dann in eine abschließbare Box legen. Darum sollten sich ausschließlich Experten kümmern. Das Auslegen von Klebebändern, wie es etwa in Mülheim der Fall war, hält Baur für Barbarei - "eine Methode, die bestenfalls für Insekten zugelassen sein sollte", sagt er. "Wenn die Schlange sich darin verfängt, kriegt man sie da nie mehr lebend davon weg, weil sie sich in ihrer Panik die Haut vom Leib reißt."

Ist die Angst vor der Kobra berechtigt?

Eine unmittelbare Gefahr für die Nachbarn sieht Baur nicht. "Eine Kobra ist kein marodierendes Vieh, das kleine Kinder frisst - die will nur weg." Die Situation sei für die Schlange ebenso beängstigend wie für den Menschen. "Solange man das Tier in Ruhe lässt, wird es niemanden anfallen." Dennoch müsse man davon ausgehen, dass sie jemanden beißen und verletzen könnte.

Hat der Vorfall Auswirkungen auf die Gesetzeslage?

In Nordrhein-Westfalen werden jetzt Forderungen nach strengeren Auflagen laut, damit steht auch die Einführung eines Gefahrtiergesetzes wieder zur Debatte. Bereits 2014 hatten SPD und Grüne im Landtag - damals als Regierungsfraktionen - ein solches Gesetz angestrebt. Der Vorstoß war aber vor allem am Widerstand der Kommunen gescheitert. Zumindest auf Landesebene will etwa der Herner SPD-Landtagsabgeordnete Alexander Vogt nun ein Haltungsverbot für potenziell tödliche Tiere wie Giftschlangen, Skorpione, Krokodile oder Raubkatzen durchsetzen. In NRW gelten für die Haltung wildlebender Tiere in Privathaushalten derzeit kaum Vorgaben, solange Artenschutz-Regeln eingehalten werden. Eine bundesweit einheitliche Regelung zum Umgang mit gefährlichen oder giftigen Tieren gibt es nicht. Ein Schlangenbesitzer, der aus dem baden-württembergischen Ulm auf die andere Seite der Donau ins bayerisch-schwäbische Neu-Ulm zieht, müsste seine giftige Kobra beispielsweise abgeben.

Ist die Haltung von Reptilien in einer Wohnung verantwortungslos?

"Ich bin keineswegs gegen die Haltung von Reptilien - vorausgesetzt, der Mensch weiß, was er tut", sagt Baur. Er ist überzeugt, dass es für Reptilienhalter einfacher ist, deren natürlichen Lebensraum nachzuempfinden und ihre Bedürfnisse zu erfüllen, als das etwa bei Kaninchen oder Hunden der Fall ist, die den ganzen Tag alleine in der Wohnung sitzen.

Was wurde aus den 20 anderen Schlangen des mutmaßlichen Kobrahalters?

Mittlerweile wurden die Tiere abtransportiert und in ein Reptilien-Auffanglager gebracht. Die Haltung von Schlangen wurde dem Mann bis auf Weiteres untersagt. Das eigentliche Problem ist damit nicht gelöst: Die Monokelkobra ist nach wie vor auf der Flucht.

© SZ vom 29.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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