Russland:Moskau prüft auch Terroranschlag als Ursache für Flugzeugabsturz

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Eine Tupolew Tu-154 auf dem Luftwaffenstützpunkt Chkalovsky, nördlich von Moskau. Ein Flugzeug dieses Typs ist über dem Schwarzen Meer abgestürzt. (Foto: REUTERS)
  • Kurz nach dem Start vom Badeort Sotschi ist ein russisches Militärflugzeug über dem Schwarzen Meer abgestürzt.
  • Am Sonntagmorgen wurden Trümmerteile der Maschine im Wasser gefunden. An Bord der Tupolew waren 92 Menschen, darunter ein Armeechor.
  • Die Piloten verschickten keinen Notruf.
  • Es wird davon ausgegangen, dass kein Insasse den Absturz überlebt hat.
  • Die Militärmaschine war auf dem Weg nach Syrien.
  • Russland gedenkt am Montag der Opfer in einem landesweiten Tag der Trauer.

Nach dem Absturz eines russischen Militärflugzeugs mit wahrscheinlich 92 Toten schließt die Regierung einen Terroranschlag nicht aus. Verkehrsminister Maxim Sokolow sagte am Sonntagnachmittag, als mögliche Ursache werde auch ein Terrorakt in Betracht gezogen. Man untersuche ein ganzes Spektrum an möglichen Gründen. Es sei aber verfrüht, über die Ursache zu spekulieren.

Experten sagten, für einen Anschlag spreche, dass die Crew keinen Notruf über einen möglichen technischen Defekt abgesetzt habe und dass Trümmer der Maschine vom Typ Tupolew Tu-154 in einem großen Radius verstreut seien. Die Datenschreiber zu finden, werde schwierig, weil sie kein Funkfeuer besäßen, sagte Sokolow.

Die Maschine des Verteidigungsministeriums war wenige Minuten nach dem Start aus bisher ungeklärten Gründen ins Schwarze Meer gestürzt.Unter den Passagieren waren auch Mitglieder des bekannten Alexandrow-Militärchores sowie eine bekannte Ärztin. Das Flugzeug war auf dem Weg von Sotschi zu einem Besuch russischer Truppen in Syrien auf der Militärbasis Hemeimim in der Provinz Latakia, dort sollten die Musiker ein Neujahrskonzert geben. Im Oktober 2015 war ein russischer Ferienflieger auf seinem Flug von Ägypten nach Russland durch eine an Bord geschmuggelte Bombe abgestürzt, alle 224 Insassen starben.

Zunächst hatte ein ranghoher Regierungsvertreter die Möglichkeit heruntergespielt, dass es sich um einen Terrorakt handeln könnte. Präsident Wladimir Putin rief für Montag eine eintägige Staatstrauer aus. Syriens Präsident Baschar al-Assad, den Russland seit September 2015 mit Luftangriffen im Kampf gegen Aufständische hilft, kondolierte Putin.Mehr als 3000 Rettungskräfte waren im Einsatz, um nach möglichen Überlebenden zu suchen, darunter auch Dutzende Taucher. Bis zum Nachmittag wurden zehn Leichen aus dem Schwarzen Meer geborgen. Flugzeugtrümmer waren nur 1,5 Kilometer von der Küste entfernt entdeckt worden.Der Kontakt zur Maschine vom Typ Tupolew Tu-154 war bereits zwei Minuten nach dem Start abgerissen.

An Bord befanden sich Ministeriumsangaben acht Besatzungsmitglieder und 84 Passagiere, darunter der Leiter des Chors, Waleri Chalilow. Nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax reisten auch neun Fernsehjournalisten mit.

Alexandrow-Chor bei einer Aufführung im Juli 2013. (Foto: dpa)

Flugzeug setzte keinen Notruf ab

Auch die russische Ärztin Jelisaweta Glinka war in dem Flugzeug. Sie ist unter dem Namen "Doktor Lisa" bekannt für ihre wohltätige Arbeit unter anderem in der Ostukraine und wollte laut ihrer Stiftung Medikamente in ein Krankenhaus in Syrien bringen. Erst im November war sie von Putin für ihre Arbeit geehrt worden. Damals sagte sie über ihre Einsätze: "Wir sind uns nie sicher, ob wir lebend zurückkommen. Aber wir sind uns sicher, dass Herzlichkeit, Mitgefühl und Wohltätigkeit stärker sind als jede Waffe."

Nach Angaben der Nachrichtenagentur Interfax reisten auch neun Fernsehjournalisten mit. Bei einem Flugmanöver im Steigflug könnte es ein "kritisches technisches Problem" gegeben haben, sagte ein Behördenvertreter der Agentur Interfax. Auch ein Fehler der Militärpiloten werde nicht ausgeschlossen, obwohl sie erfahren waren. Interfax zufolge setzte das Flugzeug keinen Notruf ab. Der Sprecher des russischen Präsidialamtes Dmitri Peskow erklärte, es sei noch zu früh, um etwas zur Absturzursache zu sagen.

Reger Luftverkehr zwischen Russland und Syrien

Der Vorsitzende im Verteidigungsausschuss des russischen Föderationsrats Viktor Oserow schloss einen terroristischen Hintergrund aus, obwohl Russland seit Herbst 2015 im Syrien-Krieg auf Seiten des Präsidenten Baschar al-Assad kämpft. Zur Versorgung der Basis Hamaimim betreibt das Verteidigungsministerium einen regen Luftverkehr. Anfang Mai hatte das russische Militär den Stardirigenten Waleri Gergijew und sein Orchester zu einem Konzert in die syrische Wüstenstadt Palmyra geflogen.

Die militärischen Verluste des russischen Syrien-Einsatzes waren nach offiziellen Angaben bislang begrenzt. Die Tragödie werde nichts am russischen Verhältnis zu Syrien ändern, sagte der Vorsitzende des Außenausschusses im Parlament, Leonid Sluzki. "Die Beziehungen zu Syrien sind und bleiben sehr eng, auch im Rahmen der gemeinsamen Operation, den internationalen Terror vom Gebiet des Landes zu vertreiben", sagte er der Agentur Interfax.

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) sprach Putin ihr Mitgefühl aus. Ihre Gedanken seien bei den Angehörigen der vielen Opfer, teilte Merkel dem Kreml-Chef nach Angaben von Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer am Sonntag mit.

Menschen legen vor der Heimbühne des Alexandrow-Ensembles in Moskau Blumen ab, um der verunglückten Chor-Mitglieder zu gedenken. (Foto: dpa)

Auch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) kondolierte Familien und Angehörigen der Opfer. "Die Nachrichten vom Absturz eines russischen Militärflugzeugs mit einem großen Armeechor an Bord über dem Schwarzen Meer erfüllen mich mit tiefer Trauer", erklärte er. "Ich hoffe, dass vielleicht doch noch Überlebende gefunden und gerettet werden können."

Das Alexandrow-Ensemble ist ein mehrfach ausgezeichneter Soldatenchor, der bereits 1928 gegründet wurde. Gründer war Alexander Alexandrow, der 1943 die Nationalhymne der Sowjetunion komponierte. Alexandrow starb 1946 in Berlin bei einer Auslandstournee mit seinem Chor.

Größtes Militär-Künstlerensemble Russlands

Das ursprünglich aus einem Dutzend Soldaten bestehende Ensemble ist mit den Jahren größer geworden. Zu dem Chor gehören inzwischen ein Orchester und eine Tanzgruppe. Es ist das größte Militär-Künstlerensemble Russlands. Das Repertoire umfasst etwa 2000 Werke, zu denen orthodoxe Kirchenlieder sowie traditionelle russische Volkslieder und -tänze gehören. Es handelt sich um Lieder russischer Komponisten, klassische Werke russischer und ausländischer Komponisten, aber auch um weltbekannte Meisterwerke der Popmusik. Der Chor trat 1948 im besetzten Berlin auf. Die Sänger gaben weltweit Gastspiele, in Berlin gastierten sie zuletzt 2015.

Tupolew-Passagierflugzeuge waren lange Zeit das Rückgrat der sowjetischen Luftfahrt und auch in vielen anderen Ländern im Einsatz.

Das dreistrahlige Mittelstreckenflugzeug Tupolew-154 war das größte dieser Serie. Es absolvierte seinen Jungfernflug 1968 und ging 1972 bei der staatlichen sowjetischen Fluggesellschaft Aeroflot in den Dienst. Die Flugzeuge ähneln in Design und Bauweise stark der Boeing 727.

Tu-154 wird wegen Sicherheitsbedenken allmählich ausgemustert

Nach heutigen Standards ist die Tupolew-154 zwar laut und braucht viel Treibstoff, sie gilt aber als wendige Arbeitsmaschine. Das verunglückte Flugzeug wurde 1983 gebaut und 2014 repariert.

Insgesamt wurden mehr als 950 TU-154 ausgeliefert. Heute fliegen Maschinen diesen Typs in Russland nicht mehr im regulären Passagierbetrieb, sie werden nur noch von staatlichen Organisationen und der Armee eingesetzt.

Flugzeugunglück von Smolensk
:Gedenken in Rot und Weiß

96 Menschen starben, auch der polnische Präsident Kaczynski. Polen gedenkt fünf Jahre nach dem Flugzeugabsturz bei Smolensk der Opfer. Noch immer kursieren Verschwörungstheorien.

Nach mehreren Unfällen mit den veralteten Jets ordneten die russischen Behörden 2011 die allmähliche Ausmusterung aller Tu-154 im Passagierverkehr an. Im Jahr zuvor, am 10. April 2010, war die polnische Präsidentenmaschine, die dieses Typs war, beim Landeanflug auf die russische Stadt Smolensk in dichtem Nebel abgestürzt. Unter den 96 Todesopfern an Bord war auch Polens Präsident Lech Kaczynski.

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