Prozess in Hamburg:"Sie war eine vorbildliche Mutter"

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Sie wollte Anerkennung - und machte ihren Sohn so krank, dass er zeitweise in Lebensgefahr schwebte. In Hamburg ist eine Mutter verurteilt worden.

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Nach außen war sie eine vorbildliche Mutter: aufopferungsvoll, dazu sympathisch und hilfsbereit. Zuhause aber hat die 30-Jährige ihrem Sohn Spritzen injiziert, die mit Speichel, Fäkalien und Blumenwasser verseucht waren. Drei Jahre war der Junge damals. Über mehrere Monate ging die Tortur. Zwischenzeitlich schwebte das Kind in Lebensgefahr. Dafür hat das Landgericht Hamburg die Mutter nun zu zwei Jahren und neun Monaten Haft verurteilt.

Es ist eine Tat, die nur schwer begreiflich ist. Deshalb geht der vorsitzende Richter Heiko Hammann ungewöhnlich ausführlich auf die Hintergründe ein, beschreibt Leben und Persönlichkeit der Mutter detailliert. Zum Prozess selbst war die Öffentlichkeit nicht zugelassen, da das Gericht die Unterbringung der Mutter in einer psychiatrischen Klinik erwog und intimste Details aus ihrem Leben besprach. Kurz vor den Plädoyers ließ die Kammer die Öffentlichkeit aber wieder zu. Eine Unterbringung komme nach Erstellung eines Gutachtens nicht mehr in Betracht, sagte ein Gerichtssprecher.

Mangelndes Selbstwertgefühl

Staatsanwaltschaft und Verteidigung waren zum Prozessauftakt davon ausgegangen, dass die Angeklagte unter dem sogenannten Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom leidet. Dabei macht ein Mensch einen anderen bewusst krank oder täuscht eine Krankheit vor, um Zuwendung zu erreichen. Das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom tritt höchst selten auf. Ob es die Krankheit tatsächlich gebe, sei umstritten, erläutert Richter Hammann während der Urteilsbegründung. Für das Gericht stehe jedoch außer Frage, dass die Angeklagte unter einer Persönlichkeitsstörung leide.

Die Angeklagte sei bei ihrer Mutter aufgewachsen, der Vater habe die Familie früh verlassen. Nach einem Umzug habe sie sich oft allein gefühlt, die Mutter habe viel gearbeitet, das Verhältnis zur Tagesmutter sei problematisch gewesen, sie habe das Mädchen missbraucht. "Dieses Trauma hat sich verfestigt", sagt der Richter.

Er spricht vom mangelnden Selbstwertgefühl, von Schlaf- und Essstörungen, Angstzuständen und schließlich einem Suizidversuch. Die Angeklagte sei 2004 in einer psychiatrischen Klinik gewesen. 2006 lernte sie dann ihren Mann kennen, auch damals musste sie noch Medikamente nehmen. Die große Liebe, so deutet es der Richter an, war es für die Angeklagte wohl nicht. Trotzdem heirateten die beiden. "Sie hat wohl den Entschluss gefasst, die Ehe einzugehen, um nicht allein zu sein." Die Angeklagte habe eine Familie gewollt. Schnell wurde sie schwanger mit Zwillingen, 2010 wurde ein weiteres Kind geboren.

Nach außen hin vorbildlich

"Sie war eine vorbildliche Mutter", beschreibt Hammann die Angeklagte, "sie hat alles getan, was von ihr erwartet wurde." Als Grund vermutet er den Wunsch nach Anerkennung. Doch die bekam sie nicht. Die Schwiegereltern akzeptierten sie nicht, der Mann musste viel arbeiten und habe eine Affäre gehabt. Pläne der Angeklagten, ein Café zu eröffnen, seien fehlgeschlagen."Sie fühlte sich zunehmend alleingelassen und nicht wahrgenommen", sagt der Richter.

Als ihr jüngster Sohn krank wurde und ins Krankenhaus musste "hat die Angeklagte all das, was sie vermisst hat, erhalten", berichtet er weiter. Die Familie kam, die Ärzte empfanden die Mutter als engagiert und sympathisch. Irgendwann in dieser Zeit, so sieht es das Gericht, muss die Mutter dann den Entschluss gefasst haben, ihr Kind krank zu machen. Mehrmals habe sie ihrem Sohn in den folgenden Monaten Spritzen injiziert, die sie zuvor mit Speichel, Fäkalien und Blumenwasser verunreinigt hat. Das Gericht sah das in mindestens sechs Fällen als erwiesen an, einen davon habe die Mutter schon vor Prozessbeginn gestanden, an die anderen habe sie nach eigenen Aussagen keine Erinnerung mehr.

Der kleine Junge habe zweimal in Lebensgefahr geschwebt, schließlich gingen die Ärzte von einer Erkrankung des Immunsystems aus. Sie schlugen eine Knochenmarktransplantation vor - nicht ohne die Eltern auf die Risiken eines solchen Eingriffs aufmerksam zu machen. Die Mutter stimmte zu, obwohl sie um die Gefahren wusste und selbst erlebt hat, wie sich der Gesundheitszustand ihres Kindes verschlechterte.

Der Richter zeigte sich in seiner Urteilsbegründung überzeugt, dass sie die Diagnose verstanden habe. Zweifel habe sie nicht gezeigt, im Gegenteil: "Sie hat mitgewirkt, sie hat eingewilligt", sagt er.

Doch der Krankheitsverlauf des Jungen kam den Ärzten dann doch verdächtig vor. Schließlich durchsuchte eine Krankenschwester das Zimmer des Kindes und fand Fusionsflaschen mit Einstichstellen. An ihnen habe das Krankenhaus die Keime entdeckt, die die Mutter überführten. Die Ärzte stellten sie zur Rede und trennten sie von dem Kind. Dem Jungen ging es bald besser.

Die Fürsorgepflicht missbraucht

"Wir können nicht ausschließen, dass wir hier eine verminderte Schuldfähigkeit haben", sagte Richter Heiko Hammann. Dagegen spreche allerdings, dass die Mutter planvoll über einen so langen Zeitraum vorgegangen sei. Sie habe mehrere Handlungsalternativen gehabt, sich aber bewusst für diesen Weg entschieden. Sie habe immer wieder Wege gefunden, unbeobachtet zu handeln und die Taten geschickt vertuscht. Er sehe daher keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Angeklagte unbewusst gehandelt haben könnte.

Diese übernehme inzwischen auch Verantwortung für ihre Taten - könne sich diese gleichzeitig nicht erklären. "Ich liebe meine Kinder", zitiert sie der Richter und: "Das war nicht ich." Die schwierige Kindheit und Ehe der Frau bezog das Gericht in sein Urteil ein, ebenso die Tatsache, dass sich die Angeklagte noch nie etwas zu Schulden kommen hat lassen. Außerdem habe sie sich in psychiatrische Behandlung begeben, arbeite das Geschehene auf. Sie habe sich auch gegenüber dem Gericht kooperativ gezeigt und zeige aufrichtige Reue. Und sie müsse damit leben, dass sie ihre Kinder nicht mehr sehen dürfe. Auch das habe sie akzeptiert.

Doch auf der anderen Seite wiege ihre Schuld eben auch schwer, betont der Richter. Sie habe ihr Kind in Lebensgefahr gebracht und damit ihre Fürsorgepflicht missbraucht. "Das Leben des Kindes hing zeitweise am seidenen Faden", sagt Hammann. Deswegen kam das Gericht dem Wunsch der Verteidigung nach einer Bewährungsstrafe nicht nach. Trotzdem gibt er der Angeklagten auf den Weg: "Ich hoffe, dass sie ihre Therapie weitermachen und irgendwann ein Licht am Ende des Tunnels sehen."

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