Ort der Erinnerung:Die Mauer bricht weg!

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  • Das Teilstück der Berliner Mauer, die East Side Gallery, verfällt seit Jahren.
  • Auch zahlreiche Bauvorhaben in der Umgebung bedrohen die Substanz des Mauerstückes.
  • Jetzt soll gerettet werden, was noch zu retten ist. Vor Kurzem wurde die East Side Gallery an die von Land und Bund getragene Stiftung Berliner Mauer übergeben.

Von Verena Mayer, Berlin

Eine der häufigsten Fragen von Touristen, die man in Berlin beantworten muss, lautet: "Wo ist die Mauer?" Wobei es nicht darum geht, historische Hintergründe zu erklären, was ja auf die Aussage hinauslaufen würde, dass die Mauer heute weg ist. Die Leute wollen aber eigentlich nur den Weg zur East Side Gallery wissen, dem Mauerstück in der Nähe des Ostbahnhofs. Bunt bemalt und mit dem ikonisch gewordenen Bild von Breschnjew und Honecker darauf, wie sie sich küssen. Zumindest war das bisher so.

Es ist das einzige Überbleibsel der Berliner Mauer, das den Namen noch verdient. 1,3 Kilometer lang, auf der einen Seite weiß gestrichen, auf der anderen von Künstlern gestaltet, das letzte zusammenhängende Mauerstück. Es gibt kaum eine Sehenswürdigkeit in Berlin, die so oft fotografiert wurde und so viele Besucher anzieht. Vor allem aber gibt es wenige Orte, die so sehr für die Geschichte der Stadt stehen: Für Unterdrückung und Teilung, aber auch dafür, wie man diese überwindet. Was das Kolosseum in Rom ist oder die Akropolis in Athen - das sind in Berlin die Mauerreste.

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Kaum eine Attraktion der Hauptstadt wird so oft abgelichtet, wie die Berliner East Side Gallery. Sie ist Mahnmal, Freilichtmuseum und Kunstschau in einem.

Was vielen lange nicht klar war: Die Spuren der Geschichte muss man auch konservieren

Das zeigt sich jedes Mal, wenn irgendwo ein Stückchen auftaucht. Neulich etwa, als Berliner bei einem Kiez-Spaziergang mit einem Stadtpolitiker ein Areal in der Nähe des Bundesnachrichtendienstes in Berlin-Mitte besichtigten und plötzlich eine mit grünem Graffiti besprühte Betonwand entdeckten, die ihnen seltsam bekannt vorkam. Wie sich bei Untersuchungen herausstellte, war es ein Teil der Vorfeldsicherungsmauer aus dem Jahr 1985, 20 Meter lang, ausgestattet mit Lampenhaltern. Der Mauerrest wurde unter Denkmalschutz gestellt, die Nachricht über den "Sensationsfund" machte Schlagzeilen.

Das Problem ist nur: Vielen in Berlin war die längste Zeit nicht klar, dass es zur Geschichte gehört, dass man ihre Spuren konserviert, pflegt und zugänglich macht. Was man nun an der East Side Gallery beobachten kann. Der Ort ist in einem elenden Zustand. Gesäumt von Billig-Hostels und Imbissbuden, die der Spree zugewandte Rückseite ist verdreckt und beschmiert. Auf dem Grünstreifen zwischen Wasser und Mauer liegt Müll, dazwischen stapeln sich alte Fahrräder. Und erst die Mauer selbst.

Sie sieht an vielen Stellen aus, als sei sie gerade erst eingerissen worden. Immer wieder fehlen Stücke. Sie wurden entweder bei Bauarbeiten herausgebrochen oder weil der Investor, der die gegenüberliegende O2-Arena errichtete, durchsetzen konnte, dass die Musikhalle einen Zugang zum Wasser bekommt. Selbst, wenn dieser durch eine historische Anlage führt, die seit Anfang der Neunzigerjahre unter Denkmalschutz steht.

Axel Klausmeier kann das sogar verstehen. Der Kunst- und Architekturhistoriker steht auf der Grünfläche, die früher der Todesstreifen war. Die längste Zeit habe man in Berlin gedacht, dass es genügend Mauerteile gebe, sagt Klausmeier, sie standen ja überall in der Stadt herum. Also wurden die Grundstücke rundherum an Private vergeben, damit diese etwas daraus machen. Später, als Berlin kurz vor der Pleite stand, wurden die Brachen dann in großem Stil an Investoren verkauft.

Die East Side Gallery verliert immer weiter an Substanz

Klausmeier lässt seinen Blick über das Viertel schweifen. Die Gegend um die East Side Gallery steht exemplarisch für das, was gerade in der Hauptstadt passiert. Kaum ein Fleckchen, auf dem nicht Neubauten hochgezogen werden, hier ein Klotz mit Luxuswohnungen, dort die typischen würfelförmigen Hotels. Ein 140 Meter hoher Büroturm soll hier entstehen und eine riesige Shoppingmall. Überall sieht man Kräne und Baufahrzeuge, in den nächsten Jahren wird das hier ein "Business- und Entertainment-District" sein, wie es im Jargon der Stadtplaner heißt.

Und dazwischen steht die East Side Gallery und verliert immer weiter an Substanz. Klausmeier zeigt auf ein Stück, das einer Durchfahrt für Baufahrzeuge weichen soll. Ein Loch von fast elf Metern Länge wird dann in der Mauer klaffen, damit ein privater Bauherr Büros und hochpreisige Wohnungen in einer "markanten, erstklassigen Lage" bauen kann, wie es auf der Website des Bauvorhabens heißt. An einer anderen Stelle ist dort, wo vorher bunt bemalte Mauerstücke waren, die Einfahrt zu einem Parkplatz.

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Inzwischen regt sich allerdings Widerstand gegen den Umgang der Stadt mit ihrer Geschichte. Ein Bündnis mit dem Namen "East Side Gallery retten!" hat schon 40 000 Unterstützer, sogar der Sänger und Schauspieler David Hasselhoff, seit dem Mauerfall nämlich ein Dauergast in Berlin, schickte Ende Dezember von seinem Swimmingpool in Los Angeles eine Videobotschaft an Berlins Regierenden Bürgermeister: "Mr. Müller, no more buidings by the Berlin wall!" Und immer wieder gab es in den vergangenen Jahren Protestaktionen. Leute, die an die Mauer kamen und dafür demonstrierten, dass sie stehen bleibt. Die Mauer. Ironie der Geschichte.

"Das ist die beste Botschaft, die Deutschland je produziert hat"

Jetzt soll gerettet werden, was noch zu retten ist. Vor dem Sommer hat das Berliner Abgeordnetenhaus die East Side Gallery, die bis dahin mehr schlecht als recht vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verwaltet wurde, an die von Land und Bund getragene Stiftung Berliner Mauer übergeben. Diese arbeitet seit zehn Jahren das historische Erbe auf und hat unter anderem die Gedenkstätte an der Bernauer Straße aufgebaut, jenen Ort, an dem noch die Schrecken der Mauer zu sehen sind, ein Wachturm, die Grenzschutzanlage, der Todesstreifen.

Deren Direktor Axel Klausmeier muss an der East Side Gallery nun ganz von vorne anfangen. Material sichten und dokumentieren, Führungen organisieren, Tafeln anbringen, die erklären, warum die East Side Gallery so aussieht, wie sie aussieht. Dass sie etwa an der Rückseite weiß gestrichen ist, weil das zu DDR-Zeiten so gemacht wurde, damit Flüchtlinge für die Grenzsoldaten leichter zu erkennen waren. Dass hier etliche Kinder starben, als sie auf der Westseite in die Spree fielen und man sie nicht herausziehen konnte, weil das Wasser offiziell zum DDR-Grenzgebiet gehörte und es dort einen Schießbefehl gab. Aber auch, dass dieser Teil der Mauer für die Lebensfreude nach dem Mauerfall steht. Eine japanische Delegation pflanzte eine Allee aus Kirschenbäumen, 1990 kamen Künstler aus 21 Ländern hierher und malten jene Bilder, die man heute auf der ganzen Welt kennt.

Klausmeier geht mit einer Kamera die East Side Gallery entlang. Begutachtet Zeichnungen, wie die von Karl Marx als Müllsammler, macht Fotos von Sprüchen wie "Es gilt, viele Mauern abzubauen", dokumentiert Graffiti und den Zustand des Betons. Die East Side Gallery sei der Inbegriff dafür, dass keine Diktatur für die Ewigkeit gemacht sei und jede Mauer friedlich überwunden werden könne, sagt Klausmeier, "das ist die beste Botschaft, die Deutschland je produziert hat".

Es ist zu hoffen, dass sie an diesem Ort weiterhin viele Leute hören können.

© SZ vom 10.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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