Nach Chemieunfall in Tianjin:Das Rätsel der toten Fische

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Nahe der Unglücksstelle in der ostchinesischen Stadt Tianjin werden abertausende tote Fische in einem Fluss ans Ufer gespült. (Foto: dpa)
  • Erst das Unglück von Tianjin, nun die Explosion in der Provinz Shandong: In China ereignen sich binnen kurzer Zeit zwei Chemieunfälle.
  • Zudem kommt es zu ungewöhnlichen Phänomenen: In Tianjin gibt es weißen Schaum auf den Straßen, in einem nahegelegenen Fluss sterben massenweise Fische.
  • Die Behörden beschwichtigen, doch einige Messwerte sind besorgniserregend.

Von Thomas Harloff

Chinas Chemiewirtschaft wird derzeit erschüttert - im wahrsten Sinne des Wortes. Am Samstag ist bei der Explosion eines Warenhauses auf dem Gelände einer Chemiefabrik in Huantai in der ostchinesischen Provinz Shandong ein Mensch getötet worden. Deutlich verheerender das Unglück in Tianjin am 12. August. Dessen erschütternde Bilanz, Stand heute: 121 Tote, 54 Vermisste, etwa 640 Verletzte - darunter 48 in kritischem Zustand. Auf die erste Explosion folgten weitere Feuer und Explosionen im Unglücksgebiet.

Und auch jetzt, knapp zwei Wochen nach dem Unfall, können die Menschen in Tianjin noch nicht wirklich aufatmen. Die Mittel- und langfristige Folgen lassen sich nicht abschätzen, weil noch immer nicht komplett geklärt ist, welche chemischen Giftstoffe ins Freie gelangten. Fest steht bislang, dass sich auf dem Gelände 16 als gefährlich eingestufte Chemikalien befanden. Darunter Ammonium- und Kaliumnitrat, an sich harmlose Düngemittel, die in Verbindung mit leicht brennbaren Substanzen jedoch schwere Explosionen auslösen können. Chemiker gehen davon aus, dass auf dem etwa 100 000 Quadratmeter großen Gelände zudem Calciumcarbid lagerte.

Eine größere Gefahr geht aber offenbar von den bis zu 700 Tonnen Natriumcyanid aus, die sich ebenfalls dort befanden. Die Chemikalie wird verwendet, um Edelmetalle aus Sand oder Erz herauszulösen oder, um Metalle zu galvanisieren. Das Militär räumte kurz nach der Katastrophe ein, dass die Substanz, die verhindert, dass menschliche Zellen trotz ausreichend Atemluft Sauerstoff aufnehmen können und deshalb zu Erstickung führen kann, ausgetreten ist. Besonders gefährlich ist das Cyanid in Verbindung mit Wasser, aber auch in Pulverform kann es unter bestimmten Umständen tödlich sein.

Nichts Besonderes: Das Wasser sei immer schlecht

Es könnte also etwas in der Luft liegen. Oder besser: im Wasser. Auf jeden Fall liegen seit Tagen tausende tote Fische am Ufer des Flusses Haihe, nur wenige Kilometer vom Explosionsort in Tianjin entfernt. Als Laie könnte man eine einfache Schlussfolgerung ziehen: Bei der Explosion ausgetretenes Cyanid ist auf das Wasser getroffen, in dem die Fische schwimmen, die über ihre Kiemen den im Wasser enthaltenen Sauerstoff nicht mehr aufnehmen konnten und verendeten.

Eine naheliegende Erklärung? Nicht, wenn es nach den chinesischen Behörden geht. Die beschwichtigen, seitdem das Unglück in Tianjin passiert ist. Auch für das massenhafte Fischsterben haben sie eine einfache Erklärung. Schlechte Wasserqualität und hohe Schadstoffbelastung seien nicht außergewöhnlich für den Haihe-Fluss. Während der Sommermonate enthalte sein Wasser zu wenig Sauerstoff, weshalb tote Fische in dieser Region ein wiederkehrendes Phänomen seien. Erhöhte Schadstoffwerte seien von der Fischereibehörde im Haihe-Fluss seit der Explosion jedenfalls nicht gemessen worden. Das Trinkwasser sei unbedenklich, heißt es.

Prüfer des Umweltministeriums und der Umweltschutzorganisation Greenpeace haben offenbar andere Messmethoden angewandt. Sie ermittelten sehr wohl erhöhte Cyanidkonzentrationen an mehreren Messpunkten im Oberflächenwasser, darunter auch im Haihe. An einer Stelle nahe des Unglücksortes habe der Cyanidgehalt den Grenzwert um das 356-fache überstiegen.

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Woher kommt der ominöse weiße Schaum?

Während Helfer das Flussufer mit Keschern, Schaufeln und Mülltüten von den verendeten Fischen befreien, machen sich die Bewohner der Zehn-Millionen-Metropole Tianjin zunehmend Sorgen, wie sie den ominösen weißen Schaum einordnen sollen, der nach heftigen Regenfällen auf den Straßen ihrer Stadt zu sehen war. "Ein normales Phänomen bei Regenfällen, ähnliche Dinge sind zuvor schon aufgetreten", wird der Direktor des örtlichen Umwelt-Kontrollzentrums in chinesischen Medien zitiert. Eher unproblematisch seien auch Schwelbrände, die von vollgetankten Autos in einem Auslieferungsdepot nahe des Explosionsorts ausgehen würden. Kein Grund zur Beunruhigung, sagen die Behörden, die Rettungskräfte hätten die Feuer im Griff.

Ob das stimmt, lässt sich für die Bürger schwer nachvollziehen. Sie müssen auf die lückenhafte Informationspolitik der offiziellen Stellen vertrauen und auf die medienwirksamen Ad-hoc-Maßnahmen der Regierung. Die hat im ganzen Land inzwischen Sicherheitsinspektoren aktiviert, die Chemieunternehmen auf Sicherheitsmankos untersuchen sollen. Und die Prüfer wurden fündig: Allein in Peking seien 85 von 124 überprüften Betrieben auffällig gewesen, zwei davon geschlossen worden, teilte die amtliche Nachrichtenagentur Xinhua mit.

Den Opfern der Explosion von Tianjin hilft das nicht mehr. Den anderen Einwohnern der Metropolregion vielleicht schon. Hoffnung dürfte der Bevölkerung aber weniger die eigenen Behörden, sondern eher die Wissenschaft machen: Cyanid zersetzt sich in der Umwelt relativ schnell, das Gesundheitsrisiko sollte insgesamt nur einige Tage anhalten.

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