Mordprozess in Aachen:Pretty Woman mit tragischem Ende

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Ein alter Freier holt eine drogenabhängige Prostituierte von der Straße, die beiden heiraten, sie geht auf Entzug, studiert und wird Ärztin. Dann bringt sie ihn um. Das hat Lydia H. gestanden. Warum, das ist bis jetzt rätselhaft geblieben.

Bernd Dörries, Aachen

Es war fast ein bisschen seltsam, dass kaum jemand diesen Vergleich benutzte, niemand eine Parallele zog, zu Pretty Woman, dem Film. Das Grundgerüst war ja da: Älterer Mann rettet Frau aus der Prostitution, verhilft ihr zu einem neuen, bürgerlichen Leben. Vielleicht war auch Liebe im Spiel. Und wenn er nicht gestorben wäre, ja dann, dann gäbe es vielleicht so etwas wie ein Happy End.

Von der Prostituierten zur Ärztin: Lydia H. muss sich vor dem Landgericht Aachen wegen Mordes verantworten - an ihrem Ehemann, der sie einst aus dem Rotlichtmilieu holte. (Foto: dpa)

So aber gibt es einen Mordprozess vor dem Landgericht Aachen und am Dienstag auch ein Urteil. Die Staatsanwalt wirft Lydia H., 36, vor, ihren Mann, 85, mit einer Morphiumspritze getötet zu haben, aus Habgier, weil sie an sein Geld wollte.

Seit Ende vergangenen Jahres verhandelt das Gericht schon, und man kann wirklich nicht sagen, dass die Richter es sich leicht gemacht haben. Immer wieder wurden neue Gutachter bestellt, wurde Beweisanträgen stattgegeben, wurde versucht nachzuermitteln, was die Polizei versäumte. Lydia H. hatte zu Beginn des Verfahrens geschwiegen, ihr Verteidiger Reinhard Birkenstock hatte sehr laut überlegt, ob sich Hermann v. d. H. nicht vielleicht auch selbst getötet habe. Hat er aber nicht.

Das Motiv bleibt rätselhaft

Birkenstock hatte Anfang des Jahres schon plädiert, da hielt Lydia H. es plötzlich für aussichtsreicher, doch zu gestehen. Lydia H. hat ihren Mann getötet, das weiß man jetzt. Aber warum, das ist bis jetzt rätselhaft geblieben.

"Sie hat den Einzigen getötet, der in ihrem Leben etwas Positives bewirkt hat". Das sagt nicht etwa die Staatsanwaltschaft, sondern ihr Anwalt. Der Verteidiger muss weiter verteidigen, auch wenn alles so ganz anders war, als er lange dachte. Er wurde überrumpelt von der neuen Wahrheit. Am Montag versucht es Birkenstock in seinem Abschlussplädoyer noch einmal mit dem ganzen Leben von Lydia H., in dem die Antwort liege, Kapitel für Kapitel - als ob so ein Leben zu einem Mord führen muss. Oder einem Totschlag. Auf diesen Unterschied kommt es jetzt an.

Lydia H. wächst in einer schwierigen Familie auf, Scheidungen, Umzüge, ein Stiefbruder, der sie missbraucht. Mit 14 kifft sie, dann Heroin und Straßenstrich, sie entgleitet allen, die ihr helfen wollen. Allen, bis auf Hermann H. Er ist nicht Richard Gere aus Pretty Woman, er ist nicht schön, er ist nicht reich. Er ist einfach ein alter Freier, der Sex will, mit jungen Frauen, gegen Geld. Fünfzig Jahre liegen zwischen den beiden. Er könnte vom Alter her nicht nur ihr Vater sein, er könnte ihr Großvater sein.

Er merkt, wie labil Lydia H. ist, er macht sie zu "seiner Privatprostituierten", so nennt es Birkenstock. Sie ziehen zusammen und Hermann H. entwickelt den Ehrgeiz, auch etwas zu machen aus seinem Mädchen. Und sie macht mit: Methadon-Programm, Abitur, Studium, Promotion. Die frühere Prostituierte ist jetzt Ärztin an der Uniklinik in Ulm. Es klingt nach einer ganz großen Geschichte.

Aber niemand redet von Pretty Woman, Straßenmusikerin sei sie gewesen, sagt Lydia H., wenn es um ihr Vorleben geht. Wenn sie überhaupt etwas sagt. Einen angenehmen Umgang hätten die beiden gepflegt, sagen Menschen, denen die beiden begegnet sind, beim Arzt, auf der Bank. Es ist aber letztlich ein Leben zu zweit. "Obwohl ihr so viel gelang, dürfen wir nicht glauben, dass dadurch die Grundstruktur der Beziehung aufgehoben wurde", sagt Verteidiger Birkenstock.

Einmal Prostituierte, immer Prostituierte?

Die Angst des Ehemannes, verlassen zu werden

Jedenfalls scheint sich beim späteren Opfer zu dem Stolz über das Erreichte seiner Ehefrau die Angst gemischt zu haben, verlassen zu werden. Sie nabelt sich immer mehr ab, bekommt eine Stelle an der Uniklinik Ulm, lernt im Internet einen neuen Freund kennen, die Zeichen stehen auf Trennung, er sperrt die gemeinsamen Konten. Lydia H. sagt, ihr Mann habe versucht, ihre Bewerbungen zu sabotieren, habe Zettel in die Schreiben gelegt, auf denen stand, wie ihr früheres Leben war.

Im Februar kommt es zu einem Streit. Ihr Mann habe sie als Nutte beschimpft, sagt Anwalt Birkenstock, alte Traumata seien aufgebrochen, sie zog eine Spritze mit Morphin auf und tötete ihren Mann. Mit der 20-fachen tödlichen Dosis, obwohl sie doch Narkoseärztin ist. Sie nimmt die Hälfte von dem bisschen Geld aus der Wohnung mit und zahlt es auf ein Konto ein, in der selben Nacht, am Automaten.

Verhält sich so eine eiskalte Mörderin, die ihre Spuren verwischt, fragt ihr Anwalt? Habgier, sagt die Staatsanwaltschaft, sie wollte ihr eigenes Leben finanzieren. Geld schien Lydia H. aber nie wichtig gewesen zu sein, und jetzt verdiente sie als Ärztin doch auch viel mehr als zuvor.

Sie war eigentlich gar nicht weit weg vom Happy End.

© SZ vom 10.07.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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