Sexualisierte Gewalt gegen Kinder:"Aus der Familie kann sich ein Kind nicht alleine befreien"

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In 870 Anhörungen erzählten Opfer, aber auch Angehörige und Zeugen, ihre Geschichten. (Foto: Ute Grabowsky/imago images)

Für eine Studie schildern Opfer sexualisierter Gewalt, wie das Missbrauchssystem funktionierte, wer die Täter und manchmal auch Täterinnen waren - und wer lieber wegschaute, anstatt zu helfen.

Von Henrike Roßbach, Berlin

Das vierte Kapitel trägt den Titel "Meine Geschichte", und damit ist schon viel gesagt über die neue Studie, die die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs am Dienstag in Berlin vorgestellt hat. In 870 vertraulichen Anhörungen und schriftlichen Berichten haben mehrheitlich Missbrauchsopfer, aber auch einige Angehörige und Zeitzeugen seit 2017 der Kommission ihre Geschichten erzählt. So wie Anja, deren Bericht Teil der Studie ist: "Er hat jeden Tag und immer versucht, an mich heranzukommen und mich anzufassen", berichtet sie über ihren Vater, "sich zu entblößen, mich in die Ecke zu drängen und zu küssen." Oder Monika: "In meinem zehnten oder elften Lebensjahr fingen die sexuellen Übergriffe meines Vaters an. Ich habe mit niemandem drüber gesprochen."

"Ich hoffe, dass diese Studie viel gelesen wird", sagte Angela Marquardt, die im Betroffenenrat des Unabhängigen Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung sitzt, am Dienstag bei der Vorstellung des 155 Seiten starken Berichts. "Machen Sie etwas daraus, kein Kind kann sich alleine schützen!" Sabine Andresen, die Vorsitzende der Kommission, sagte ebenfalls: "Aus der Familie kann sich ein Kind, ein Jugendlicher nicht alleine befreien." Menschen im Umfeld von Familien scheuten sich allzu oft davor, zu intervenieren, und dächten, es gehe sie nichts an, was hinter der Haustür einer Familie vor sich geht. Sie hoffe zudem, dass von der Studie ein Signal an die "Fachöffentlichkeit" ausgehe, weil viele Betroffene als Kinder durchaus Kontakt mit dem Jugendamt gehabt hätten, "daraus aber keine Hilfe resultierte".

Die Studie ist das Ergebnis eines Forschungsprojektes. Es geht um die Aufarbeitung des "Tatkontextes" von sexuellem Missbrauch in der Familie. Repräsentativ ist sie zwar nicht, die Auswertung der Berichte aber förderte durchaus einige Daten zutage. Die jüngsten Personen, die sich an die Kommission wandten, waren demnach zwischen 16 und 21 Jahren alt, die ältesten zwischen 76 und 80. Fast 89 Prozent waren Frauen. Erlitten hatten sie den Missbrauch vom Säuglingsalter bis zur Jugend, meist begannen die Übergriffe vor dem sechsten Lebensjahr.

87 Prozent Täter, 13 Prozent Täterinnen

Oft ging die Gewalt nicht nur von einem Täter aus: Die Datenbank enthält 1153 Täter, obwohl es nur um 870 Fälle geht. Am häufigsten waren die Väter die Täter, sie machen mit 36 Prozent der Datenbankeinträge die größte Gruppe aus. Mütter werden in acht Prozent der Einträge als Täterinnen genannt. Stiefväter, Großväter, Groß- und Stiefonkel sowie Brüder spielen ebenfalls eine größere Rolle, weibliche Verwandte dagegen weniger. Insgesamt ergeben die Berichte 87 Prozent Täter und 13 Prozent Täterinnen.

In 141 Missbrauchsfällen war eine "ritualisierte und/oder organisierte Struktur" erkennbar - es gab also gemeinschaftliche Übergriffe, Kinder wurden Dritten überlassen, zum Teil gegen Geld, oder aber die Gewalttaten gingen mit einer "(schein)ideologischen oder religiös geprägten Sinngebung oder Rechtfertigung" einher.

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