Es ist einer der schrecklichsten Alpträume, den sich Eltern überhaupt vorstellen können: Sie stehen vor der Grundschule, um ihre Söhne und Töchter abzuholen. Heraus kommt die Polizei, die erklärt, dass ihr Kind tot sei. Erschossen, von einem Attentäter. Wie soll ein Betroffener ein solches Erlebnis verarbeiten, wenn schon der Rest der Welt, der nur über die Medien davon erfährt, in eine Art Schockstarre verfällt? Wie jemals diesen einen Tag begreifen, an dem für diese Eltern die Welt zusammenbrach?
Inzwischen wissen wir: Am Freitag, 14. Dezember, gegen 9.30 Uhr Ortszeit (15.30 Uhr MEZ), hat ein 20-Jähriger, den die Behörden als den Amerikaner Adam Lanza identifiziert haben, die Grundschule in Newtown, Connecticut, betreten. Die Schule, an der fünf- bis zehnjährige Kinder unterrichtet werden, liegt am Waldrand der Kleinstadt, rund 130 Kilometer entfernt von New York.
"Newtown ist ein eher wohlhabendes und ganz ruhiges Städtchen, quasi ein Dorf", sagt Tim Loh, Reporter bei der Connecticut Post, zu Süddeutsche.de. "Eigentlich ist das hier die perfekte New-England-Stadt", erzählt die Mutter einer Schülerin, Leigh Libero, dem Wall Street Journal fassungslos. Auch ihre Tochter wäre an diesem Morgen in der Grundschule gewesen - hätte sie nicht einen Zahnarzttermin gehabt. Und David Connors, Vater von Drillingen der ersten Klasse, die das Massaker überlebt haben, sagte, die Fahrt zur Schule sei die "furchtbarste Fahrt meines Lebens" gewesen. Wegen der Ungewissheit, ob seine Kinder unter den Opfern sind.
Die Schilderungen aus Newtown lassen nur erahnen, in welchem Zustand sich die Bürger der Kleinstadt befinden, deren Kinder um ein Haar dem Tode entronnen sind - und vor allem diejenigen unter den Eltern und Familien, die Tote zu beklagen haben.
Jetzt werden im ganzen Land wieder Stimmen laut, die eine Verschärfung des Waffengesetzes in den USA fordern. Denn: Der Täter soll mindestens zwei Waffen bei sich getragen haben, die auf den Namen eines Familienangehörigen legal registriert worden seien, womöglich auf den Namen seiner Mutter. Als gesichert gilt, dass Lanza fast 100 Schüsse innerhalb von zwei Räumen der Schule abgegeben haben soll, und dabei äußerst präzise vorgegangen ist. Nur eines der getroffenen Opfer überlebte.
Über die genauen Umstände und Abläufe des Massakers sowie über den Zustand und mögliche Motive des Täters werden Behörden und Medien in den nächsten Tagen noch genauere Erkenntnisse zutage fördern; einige bisherige Annahmen haben sich als falsch herausgestellt. So geriet zunächst der 24-jährige Bruder des Attentäters ins Blickfeld, Ryan Lanza, der sich über Facebook beeilte, zu erklären, dass er nicht der Täter sei. Stattdessen handelt es sich um seinen jüngeren Bruder Adam, der den Ausweis von Ryan bei sich getragen haben soll.
Auch die frühere Annahme, dass der Mann seine Mutter in der Schule erschossen haben soll, wurde revidiert. Inzwischen berichten US-Medien, die Mutter sei zu einem früheren Zeitpunkt an der Schule tätig gewesen. Adam Lanza habe sie am Morgen zu Hause getötet, bevor er sich zu ihrer ehemaligen Arbeitsstätte aufgemacht habe, um das Morden fortzusetzen. Dort habe ihn die Direktorin als Angehörigen einer Mitarbeiterin erkannt und deshalb die Tür geöffnet.
An der Sandy-Hook-Grundschule galten seit diesem Jahr strenge Sicherheitsvorschriften: Fremde durften nach Schulbeginn die Schule nicht mehr betreten. Doch Adam Lanza war offenbar kein Fremder.
Es ist also menschlich nachvollziehbar, dass der britische CNN-Moderator Piers Morgan am Tag des Attentats in seiner Sendung ausrastet, als er mit zwei Vertretern der US-Waffenlobby über eine mögliche Verschärfung der US-Waffengesetze spricht: Es sei belegt, so einer seiner Gäste, dass mehr Waffen zu mehr Sicherheit führten. "Ich habe es satt, ständig zu hören, die beste Antwort auf solche Massaker seien mehr Waffen. Das ist doch nicht zu fassen!", brüllt Morgan. "Da sind Kinder gestorben, und Sie argumentieren immer noch so?"
Die Argumentation der Waffenlobby und auch vieler Amerikaner mutet für Europäer oft befremdlich an. Viele US-Bürger reagieren auf mögliche Pläne, die Waffengesetze zu verschärfen, so ungehalten, als sollte ihr Recht auf freie Meinungsäußerung beschnitten werden. 50 Prozent der US-Bürger sprachen sich in einer Erhebung des Nachrichtensenders CNN zuletzt gegen größere Einschränkungen des Waffenbesitzes aus. Dagegen forderten 48 Prozent eine stärkere Waffenkontrolle.
Jährlich sterben in den USA etwa 30.000 Menschen durch Schusswaffengebrauch. Damit werden im eigenen Land weitaus mehr Menschen erschossen als bei Kriegseinsätzen im Ausland. Das Recht auf Waffenbesitz ist im zweiten Zusatzartikel zur Verfassung der Vereinigten Staaten verankert: "Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, darf nicht beeinträchtigt werden", heißt es dort. Wie weit dieses Recht allerdings reichen darf und welche Arten von Waffen davon betroffen sind, gilt als umstritten.
Waffen-Befürworter fordern mehr Gott und mehr Religion
Nach jedem Attentat entflammen die Diskussionen aufs Neue, doch es passiert wenig: Regelmäßig zeigt sich die Nation zunächst betroffen, dann debattieren Befürworter und Kritiker von schärferen Waffengesetzen öffentlich - bis das Thema im Nachrichtenstrom wieder untergeht. Bisher ohne größere Änderungen im Waffenrecht.
Ein Grund dafür ist die mächtige Waffenlobby der National Rifle Association (NRA) mit ihren nach eigenen Angaben etwa vier Millionen Mitgliedern: Um ihre wirtschaftlichen Interessen zu schützen, stilisiert sie den Privatbesitz von Waffen zu einer kulturellen Eigenheit der USA, die es zu bewahren und zu verteidigen gelte. Jegliche Reform oder Kritik am geltenden Recht brandmarkt die NRA als Angriff auf die bürgerliche Freiheit. Auch der frühere republikanische Präsidentschaftsbewerber Mike Huckabee sagte dem konservativen TV-Sender Fox News: Mit strengeren Gesetzen lasse sich ein solches Blutbad nicht verhindern. Stattdessen brauche es in den Schulen mehr Gott und mehr Religion.
Barack Obama will nun offenbar handeln. Der US-Präsident kündigte - nicht zum ersten Mal - indirekt an, entsprechende Schritte einleiten zu wollen: "Wir haben in den vergangenen Jahren zu viele dieser Tragödien durchgemacht", sagte er in einer emotional aufgeladenen Pressekonferenz, an die Nation und an die Opfer gerichtet "Wir müssen zusammenkommen und bedeutsam handeln, um Tragödien wie diese zu verhindern. Ohne Rücksicht auf Parteipolitik."
Auch der Bürgermeister von New York, Michael Bloomberg, der als wichtiger Befürworter schärferer Waffengesetze gilt, mahnte eindringlich: Jetzt dürfe nicht wieder nur geredet werden, jetzt müsse sofort gehandelt werden. Diese "nationale Tragödie" erfordere eine "nationale Antwort".
Vor dem Weißen Haus in Washington kamen nach dem Attentat bereits Demonstranten zusammen, um für schärfere Waffengesetze zu kämpfen. Sie trugen Plakate mit der Aufschrift: "Schützt unsere Kinder - verbietet Waffen jetzt".
Etwa 200 Millionen Waffen sind in US-Privathaushalten griffbereit. Auch in Deutschland ereigneten sich in den vergangenen Jahren immer wieder Amokläufe an Schulen, doch Amerika führt die traurige Statistik der weltweit schwersten Schießereien der vergangenen 50 Jahre an, mit elf der 20 schwersten Fälle. Davon wiederum ereignete sich die Hälfte der schwersten Schusswaffen- Attentate seit dem Jahr 2007 in den USA.
Das Massaker in Newtown ereignete sich nur zehn Tage vor Weihnachten. Ob sich Obama mit den "Politikern aller Couleur", die er in seiner bewegenden Rede angesprochen hat, nun doch einmal zusammensetzt, um eine ernstzunehmende Reform auf den Weg zu bringen?
Mit Material der Agenturen AFP und dapd