Hauptangeklagter im Missbrauchsfall Lügde:Ermittler hätten Andreas V. schon früher auf die Spur kommen können

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Die versiegelte Tür eines Wohnwagens auf dem Campingplatz Eichwald in Lügde: Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen die drei Angeklagten, von denen zwei auf diesem Campingplatz gelebt haben. (Foto: dpa)
  • Am Donnerstag beginnt der Prozess gegen die drei Angeklagten vor dem Landgericht Detmold.
  • Zwei der Beschuldigten wirft die Staatsanwaltschaft vor, zusammen mehr als 400 Missbrauchstaten begangen zu haben.
  • Inzwischen gibt es 28 Nebenkläger, die von 18 Rechtsanwälten vertreten werden.

Von Britta von der Heide, Jana Stegemann und Ralf Wiegand

An diesem Donnerstag beginnt vor dem Landgericht Detmold der Prozess im Missbrauchsskandal von Lügde, dem bisher schwersten Fall von sexueller Gewalt gegen Kinder in der Geschichte Nordrhein-Westfalens. Von Anfang an schwebte über der Aufklärung der eigentlichen Tat, dem Missbrauch von mindestens 33 Kindern durch mehrere Männer über einen langen Zeitraum, auch die Frage: Hätten die Behörden das verhindern können? Nach Recherchen von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung gab es schon vor 20 Jahren erste konkrete Hinweise auf den mutmaßlichen Haupttäter Andreas V. Sie wurden, wie später noch weitere Anhaltspunkte auf sexuellen Missbrauch, offenbar nicht konsequent verfolgt.

Bisher war nur bekannt, dass der Name von Andreas V., heute 56, im Jahr 2002 auf eine inoffiziell von der Polizei Lippe geführte Liste gelangt war, mit der sie Hinweise auf Sexualstraftaten sammelte. Reporter von SZ, NDR und WDR konnten rekonstruieren, wie es dazu kam und warum es als wahrscheinlich gelten muss, dass Strafverfolgungsbehörden versäumten, Andreas V. viel früher zu stoppen. Vielen der mindestens 22 Kinder, die der Mann missbraucht haben soll, hätte ihr Leid dadurch vermutlich erspart werden können.

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Demnach hatte ein damals vierjähriges Mädchen, das sich 1998 mit ihrer Mutter auf dem Campingplatz Eichwald aufhielt und wie viele andere Kinder auch mit dem Dauercamper Andreas V. häufiger Ausflüge machte, bei ihm gespielt. Der Mann galt als sehr beliebt bei Campingplatzbewohnern, den Ferienkindern und Kindern aus der Gegend. An einem dieser Tage sei das Mädchen zu seiner Mutter zurückgekehrt und habe gesagt: "Mama, Penis lecken schmeckt nicht." Die alarmierte Mutter habe ihrer Tochter daraufhin verboten, weiter zur Camping-Parzelle von Andreas V. zu gehen und auch den Campingplatzbetreiber mit dem Vorgang konfrontiert. Der Mann habe ihr zu verstehen gegeben, dass er sich einen solchen Vorgang nicht vorstellen könne: Für "Addy", wie Andreas V. auf der Anlage genannt wurde, würde er seine Hand ins Feuer legen. Heute sagt der Campingplatzbetreiber, sich an den Vorgang nicht mehr erinnern zu können. Der Fall geriet offenbar zunächst in Vergessenheit.

Zwei Jahre später tauchten die Geschehnisse in einem anderen Zusammenhang wieder auf - und wurden aktenkundig. Die Mutter des Mädchens erstattete im Jahr 2000 Anzeige gegen ihren Ehemann, weil sie ihn verdächtigte, die Tochter zu missbrauchen. In dieser handschriftlichen Anzeige beschrieb sie aber auch die zurückliegenden Ereignisse um Andreas V., den sie nur als "Addy" kannte, und ihre Tochter. Sie nannte den Spitznamen, lokalisierte den Campingplatz in Lügde-Elbrinxen und schilderte weitere Umstände. Und sie zitierte ihre Tochter so, wie sie es selbst von ihr damals gehört hatte. Der damalige Staatsanwalt verfolgte aber offenbar nur den Vorwurf des Missbrauchs durch den Vater - die andere Spur, die zu "Addy" vom Campingplatz Lügde, blieb liegen.

Ein "Addy" wäre nach Einschätzung Schwenns leicht zu finden gewesen

Die vagen Vermutungen, die die Mutter zunächst in Richtung des unbekannten Mannes vom Campingplatz geäußert habe, hätten nicht ausgereicht, um einen Anfangsverdacht zu begründen, sagt dazu Oberstaatsanwalt Ulrich Bremer von der Staatsanwaltschaft Köln heute. Für den renommierten Strafverteidiger Johann Schwenn ist das eine klare Fehleinschätzung: "Hier hat ein Kind einen eindeutig strafbaren Sachverhalt behauptet, hat einen möglichen Täter genannt - und damit hatte die Staatsanwaltschaft die Verpflichtung, die Ermittlungen aufzunehmen und dann auch durchzuführen." Durch die Hinweise auf den Campingplatz im Örtchen Elbrinxen wäre ein "Addy" nach Einschätzung Schwenns dort leicht zu finden gewesen.

Wiederum zwei Jahre später, im Jahr 2002, bekräftigte auch der von seiner Ehefrau verdächtigte Vater des Mädchens, dass nicht er, sondern Andreas V. für den nun schon lange zurückliegenden Missbrauch auf dem Campingplatz verantwortlich sei. Diesmal wurde zwar ein offizielles Verfahren eingeleitet und an die zuständige Staatsanwaltschaft Detmold weitergegeben. Doch ob überhaupt je ermittelt wurde, ob und wann das Verfahren womöglich eingestellt wurde, will die Staatsanwaltschaft bislang auf Anfrage nicht sagen.

"Ich bin da fassunglos"

Der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul (CDU) sagte auf Anfrage von NDR, WDR und SZ: "Ich bin da fassungslos. Was aus diesen weiteren Hinweisen in der Vergangenheit geworden ist, konnten wir bisher noch nicht aufklären. Da kümmert sich jetzt die Staatsanwaltschaft drum. Es wäre natürlich schlimm, wenn das Leid der Kinder noch früher hätte gestoppt werden können." Weil auch später weitere Hinweise auf Andreas V. offenbar nicht konsequent verfolgt wurden, fügte Reul an: "Ob zwei oder sieben übersehene Hinweise - eigentlich ist jeder einzelne übersehene oder nicht richtig bearbeitete Hinweis einer zu viel. Das muss jetzt alles sehr sorgfältig aufgeklärt und aufgearbeitet werden."

Inzwischen halten die Ermittler den Fall von damals für so glaubwürdig, dass er Eingang in die Anklage gegen Andreas V. gefunden hat. Das Mädchen von damals, heute eine Frau von Mitte zwanzig, wird als eines der mutmaßlich 22 Kinder aufgeführt, denen der Angeklagte sexuelle Gewalt angetan haben soll.

Andreas V. und den beiden Mitangeklagten Heiko V. und Mario S. werden insgesamt mehr als 450 Einzeltaten sexueller Gewalt gegen Kinder vorgeworfen. Bisher hat sich nur Heiko V. teilweise eingelassen, die beiden anderen schweigen. Der Verteidiger von Mario S., Jürgen Bogner, hat indes angekündigt, dass sein Mandant voraussichtlich zur Sache aussagen werde.

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