23 000 Glockenschläge, für jeden Flüchtling, der in den vergangenen 15 Jahren im Mittelmeer ertrunken ist, einen. So hat das Erzbistum Köln den Weltflüchtlingstag eingeläutet, der in Deutschland auch der nationale Gedenktag für Opfer von Flucht und Vertreibung ist. Bundespräsident Joachim Gauck erinnert zu diesem Anlass in einer Rede an Flucht und Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg und fordert Verständnis und Offenheit. Doch Deutschland hat bereits jetzt einiges aus der Flüchtlingsdebatte gelernt.
1. Hinschauen!
Auf einmal sind sie überall, die Flüchtlinge. Jeden Tag gibt es Reportagen in den Zeitungen, Fernsehberichte über gekenterte Schiffe, Bilder von Toten. Auf Facebook sammeln Initiativen Klamotten und suchen Deutschlehrer. Die Städte bauen in rasender Eile neue Heime, einige von ihnen entsprechen nicht unbedingt den Mindeststandards menschenwürdigen Wohnens. Dabei warnen Experten und Initiativen schon seit Jahren vor einer Flüchtlingskatastrophe, Mittelmeerländer wie Italien und Griechenland sind ebenso lange überfordert von dem anwachsenden Strom von Menschen, die auf bruchreifen Booten an ihren Küsten landen. Die Insel Lampedusa wurde zum Symbol der Katastrophe - und war doch für die meisten Deutschen weit weg. Es mussten erst mehr und mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen, auf der Straße vor überfüllten Heimen und Turnhallen campieren, bevor wirklich jedem klar wurde: So kann es nicht weitergehen.
Deswegen ist es gut, dass die Deutschen jeden Tag mehr darüber erfahren, wie Menschen auf überfüllte Boote drängen und nur mit viel Glück Europa erreichen. Wie sie tagelang an den Grenzen Europas in den Bergen herumirren, fast erfrieren. Deswegen ist es gut, dass Flüchtlingen mehr und mehr Platz in den Medien eingeräumt wird, um zu erzählen, wie schwierig es für sie auch noch ist, wenn sie in Europa angekommen sind. Es ist gut, dass die Deutschen heute gar nicht mehr anders können, als hinzuschauen.
2. Die Deutschen sind keine Rassisten, aber...
Was sie da sehen, gefällt nicht allen. Immer wieder gibt es Anschläge auf Flüchtlingsheime, zum Beispiel in Tröglitz in Sachsen-Anhalt. Monatelang marschierten außerdem im Winter in Dresden Zehntausende (und in geringerer Zahl auch anderswo), die eine angebliche "Islamisierung des Abendlandes" beklagten - und dabei einen ganzen Haufen dumpfer Ressentiments preisgaben. Die Alternative für Deutschland zog in Ostdeutschland in vier Länderparlamente ein, indem sie genau diese Ressentiments bediente.
Alleinstehende arabische Männer? Alles Kriminelle. Und überhaupt: Warum kriegen diese Asylanten Geld? Und ich nur eine so kleine Rente, mein Nachbar bloß Hartz IV? Einen guten Überblick über diese Weltsicht bietet das Portal Katholisch.de, das Flüchtlinge menschenverachtende Tweets vorlesen lies, die es in der Debatte (leider) immer wieder gibt.
Doch nicht nur in Ostdeutschland wehrten sich Menschen gegen Flüchtlingsheime. In Hamburg zum Beispiel klagten Anwohner erfolgreich gegen ein Heim in ihrem Villenviertel. Nicht immer steckt hinter solchen Fällen purer Rassismus - auch der Wertverlust von Grundstücken oder die Angst vor Kinderlärm spielen eine Rolle.
Was genau die anonymen Hamburger Kläger bewegt, versuchte die Zeit herauszufinden, die als bisher einziges Medium ein Interview bekam. "Das hat überhaupt nichts mit Fremdenfeindlichkeit zu tun", steht groß darüber. Aber womit dann, das wird im Gesprächsverlauf nicht klar. Da ist viel von Bebauungsplänen die Rede, von atmosphärischen Veränderungen im Viertel, von Kosten, von "Ghettoisierung", davon, dass die Anwohner einer kleineren Einrichtung sofort zustimmen würden.
"Ich habe nichts gegen Flüchtlinge, aber..." kennt in Deutschland viele Varianten.
Und manche, die würden sich die Flüchtlinge vor ihrer Haustür am liebsten selbst aussuchen: Ein paar nette Familien mit wohlerzogenen Kindern - gerne! Aber alleinstehende Moslems um die 20? Ne, danke. So ähnlich passiert ist das in Perba in Sachsen, wo ein Rentner so lange öffentlich Druck machte, für Pegida mobilisierte, bis er schließlich in einer Erstaufnahmestelle drei Familien für sein Städtchen auswählen durfte. Kein Witz.
3. Der Widerstand gegen Rechts ist gewachsen - und die Hilfsbereitschaft
Auf der anderen Seite gibt es aber auch viele, die sich Pegida und Co entgegenstellen - zunächst einmal im Wortsinn, auf der Straße. Deutschlandweit nahmen viel, viel mehr Menschen an Anti-Pegida-Demonstrationen teil als an den rechtspopulistischen Märschen selbst. Politiker fast aller Parteien verurteilten die rechte Bewegung. Sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte in ihrer Neujahrsansprache vor ihr. Fast noch wichtiger ist aber, dass es nicht bei öffentlichen Kundgebungen blieb.
Politiker und Behörden berichten von überwältigender Hilfsbereitschaft für Flüchtlinge. Statt pöbelnder Bürger, die ein Heim verhindern wollen, treffen sie immer häufiger auf Bürger, die sich empören, wenn die zuständige Behörde ihnen nicht gleich sagt, wie sie helfen können. In deutschen Städten sammeln Initiativen Kleider, Fahrräder, Freiwillige geben Deutschunterricht, helfen beim Gang zu den Behörden, pflanzen Blumen auf die tristen Gelände, auf denen die Flüchtlinge häufig untergebracht sind.
Deutschland hat sich verändert seit der letzten großen Asyldebatte Anfang der 90er Jahre, da sind sich die Beobachter einig. Damals hatten Anschläge das Land erschüttert, in der Folge wurden die Asylgesetze verschärft. "Damals gab es keine Bürgermeister und keine Landräte, die sich, wie heute, den Neonazis entschlossen entgegenstellten; sie kuschten damals vor dem Mob. Damals gab es auch nur wenige Bundespolitiker, die mit so klaren und entschiedenen Worten, wie es heute fast alle Bundespolitiker tun, sich gegen den rassistischen Wahn verwahren", schreibt etwa Heribert Prantl in diesem Artikel. Und, vielleicht das Wichtigste: "Damals, vor Jahren, konnten die Agitatoren gegen Ausländer und Flüchtlinge noch glauben, sie verträten eine schweigende Mehrheit, die ohne Einwanderer und ohne Flüchtlinge leben möchte. Wer heute nicht blind oder blöd ist, weiß, dass das nicht geht."
4. Die Politik kann es nicht allein
Vielleicht ist die wichtigste Erkenntnis der vergangenen Monate: Die Politik allein kann das Flüchtlingsproblem nicht lösen. Sie kann Gesetze erlassen oder verändern, Heime bauen. Aber die Bürger müssen die Flüchtlinge aufnehmen, die ihre Nachbarn sein werden. Deswegen ist es gut, dass die meisten Städte inzwischen penibel darauf achten, die Anwohner bald und umfassend zu informieren, sie von Anfang an mitmachen zu lassen, anstatt ihnen einfach ein Heim vor die Nase zu setzen.
Dass das nicht immer einfach ist, darf in der Debatte nicht verschwiegen werden. Über die Berge und das Mittelmeer kommen Menschen nach Deutschland, die schreckliches erlebt haben, traumatisiert sind. Hier landen sie häufig in überfüllten oder unzureichend ausgestatteten Heimen, in Notunterkünften, Turnhallen oder im schlimmsten Fall sogar auf einer Isomatte unter freiem Himmel. Da kann es zu Streit und Konflikten kommen, zu schwierigen Situationen auch für die Nachbarn. Wie schön, dass trotzdem mehr und mehr Menschen zu begreifen scheinen: Aller Schwierigkeiten zum Trotz ist Hilfe ein Gebot der Menschlichkeit.