Gauck-Rede zu Flucht und Vertreibung:"Denken wir heute nicht zu klein von uns?"

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Mitte der Woche hat Bundespräsident Joachim Gauck ein Integrationsprojekt für Flüchtlinge in Giessen besucht. (Foto: AFP)
  • Bundespräsident Joachim Gauck verknüpft in seiner Rede zum Gedenktag für Flüchtlinge das Schicksal der im Zweiten Weltkrieg Vertriebenen mit dem heutiger Flüchtlinge.
  • "Vor 70 Jahren hat ein armes und zerstörtes Deutschland Millionen Flüchtlinge zu integrieren vermocht. Warum sollte ein wirtschaftlich erfolgreiches und politisch stabiles Deutschland nicht fähig sein, in gegenwärtigen Herausforderungen die Chancen von morgen zu erkennen?"
  • Vergangenes Jahr hatte die Bundesregierung beschlossen, den 20. Juni zum nationalen Gedenktag für Vertriebene zu machen und diesen an den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen zu koppeln.

Bundespräsident Gauck verbindet Flüchtlinge von damals und heute

Am ersten deutschen Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung hat Bundespräsident Joachim Gauck um Verständnis für die heutigen Flüchtlinge geworben. "Ich wünschte, die Erinnerung an die geflüchteten und vertriebenen Menschen von damals könnte unser Verständnis für geflüchtete und vertriebene Menschen von heute vertiefen", sagte Gauck am Vormittag bei der zentralen Gedenkfeier im Historischen Museum in Berlin ( Den vollständigen Redetext finden Sie hier).

"Auf eine ganz existenzielle Weise gehören sie nämlich zusammen - die Schicksale von damals und die Schicksale von heute." Umgekehrt könne "die Auseinandersetzung mit den Entwurzelten von heute unsere Empathie mit den Entwurzelten von damals fördern", sagte der Bundespräsident laut Redetext.

Insgesamt hätten am Ende des Zweiten Weltkriegs zwölf bis 14 Millionen Deutsche durch Flucht und Vertreibung ihre Heimat verloren. Die Bevölkerung in beiden Teilen Deutschlands sei um nahezu 20 Prozent gewachsen. "Das sollten wir uns gerade heute wieder bewusst machen: Flucht und Vertreibung verändern nicht nur das Leben der Aufgenommenen, sondern auch das Leben der Aufnehmenden", sagte er.

"Offenheit für das Leid des Anderen"

Gauck rief die Bundesbürger auf, "Offenheit für das Leid des Anderen" zu zeigen. Dies führe zu Verständnis und Nähe. "Daran sollten wir auch heute denken, wenn in unserem Ort, in unserem Stadtteil oder in unserer Nachbarschaft Fremde einquartiert werden, die des Schutzes bedürfen."

Noch nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seien so viele Menschen entwurzelt gewesen. Und die Zahlen dürften weiter steigen "Wir stehen vor einer großen Herausforderung, einer Herausforderung von neuer Art und neuer Dimension", sagte Gauck. Es sollte eine selbstverständliche moralische Pflicht aller Staaten Europas sein, Flüchtlinge vor dem Tod im Mittelmeer zu retten und Menschen eine sichere Zuflucht zu gewähren. "Einen derartigen Schutz halte ich nicht für verhandelbar", betonte Gauck. Dies sei so lange verpflichtend, bis diese Menschen gefahrlos in ihre Heimat zurückkehren oder hierzulande oder anderswo sicher leben könnten.

Gauck forderte zudem dazu auf, die Chancen für unsere Gesellschaft nicht zu verkennen. "Erinnern wir uns daran, welch großen Anteil Flüchtlinge und Vertriebene am erfolgreichen Wiederaufbau Deutschlands hatten", sagte der Bundespräsident. "Vor 70 Jahren hat ein armes und zerstörtes Deutschland Millionen Flüchtlinge zu integrieren vermocht. Denken wir heute nicht zu klein von uns." Gauck fragt: "Warum sollte ein wirtschaftlich erfolgreiches und politisch stabiles Deutschland nicht fähig sein, in gegenwärtigen Herausforderungen die Chancen von morgen zu erkennen?"

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23 000 Mal läuteten die Glocken des Erzbistums Köln um Punkt 20 Uhr - ein Mal für jeden Menschen, der auf der Flucht nach Europa ums Leben kam.

Erster deutscher Gedenktag für Flüchtlinge und Vertriebene

An der Gedenkfeier in Berlin nahmen auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) und der Präsident des Bundesrats, Hessens Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU), teil. Neben Gauck sollen auch Vertriebenen-Präsident Bernd Fabritius und Asma Abubaker Ali aus Nordafrika sprechen.

Vor knapp einem Jahr hatte die Bundesregierung beschlossen, den 20. Juni zum nationalen Gedenktag für Vertriebene zu machen und diesen an den Weltflüchtlingstag der Vereinten Nationen zu koppeln.

Der Umgang mit der Erinnerung an die Vertreibung aus ehemaligen deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa hatte lange für emotionale Debatten gesorgt. Der Bund der Vertriebenen forderte jahrelang einen eigenen Gedenktag. Er vertritt die Interessen von 14 Millionen, im Zweiten Weltkrieg vertriebenen Menschen und ihren Nachkommen.

© SZ vom 22.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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