Minderjährige Flüchtlinge in Hamburg:Die Flucht endet, das Trauma bleibt

Minderjährige Flüchtlinge in Hamburg - Najib, 18 Jahre, aus Afghanistan und Sozialarbeiter Hans Kautz.

Minderjährige Flüchtlinge in Hamburg - Najib, 18 Jahre, aus Afghanistan und Sozialarbeiter Hans Kautz.

(Foto: Hannah Beitzer)

1500 minderjährige Flüchtlinge leben ohne ihre Eltern in Hamburg. In die Schlagzeilen kommen die, die Probleme machen. Im April starb ein junger Afghane bei einer Messerstecherei. Was macht das mit der Stadt - und mit denen, die sich integrieren?

Von Hannah Beitzer, Hamburg

Najib hat Schmerzen in den Beinen. Das Skelett des jungen Manns zeigt heute noch Spuren dessen, was er erlebt hat. Mehr als 1000 Kilometer muss der inzwischen 18-jährige Afghane zu Fuß gelaufen sein, um nach Deutschland zu kommen. Das schätzen die Ärzte, die bei ihm einen Überlastungsschaden diagnostizierten. Tagelang lief er durch die Wildnis, die Berge, in kaputten Schuhen, dazu brachte er Tausende Kilometer versteckt in Transportern, auf Schiffen, auf Zügen hinter sich, bis er endlich angekommen war, wo derzeit viele wie er ankommen: in der Erstaufnahme für minderjährige unbegleitete Flüchtlinge in der Feuerbergstraße in Hamburg-Alsterdorf. "Meine Klamotten waren schmutzig, meine Schuhe kaputt, ich sah aus wie ein Penner", sagt er und lacht.

Najib - sorgfältig geschnittenes dunkles Haar, schwarze Lederjacke, weißes T-Shirt - lacht immer wieder über sich selbst, wenn er von seiner Flucht erzählt. Er wirkt entspannt, als spräche er über etwas, das viel länger zurückliegt als zwei Jahre. Er sitzt mit dem Sozialarbeiter Hans Kautz in einem kleinen Backsteinhaus im Südwesten Hamburgs, weit ab von Hafen und Fußgängerzone, von Schanzenviertel und St. Pauli. Auf dem Wohnzimmertisch stehen Kaffee- und Teekannen und Kekse. Der Blick aus dem hinteren Fenster geht auf einen ordentlichen kleinen Garten, vorne brausen Autos auf einer mehrspurigen Straße vorbei.

Gemeinsam mit drei anderen jungen Männern wohnt Najib seit einem Jahr in der betreuten Einrichtung der Jugendhilfe und geht tagsüber zur Schule. Er spricht ein nuanciertes Deutsch, muss nur selten nach einem Wort suchen. Ein Überflieger, sagt Sozialarbeiter Kautz und klingt dabei wie ein stolzer Vater: "Najib ist nicht nur sehr klug, er kann das auch im Unterricht anwenden."

Überfälle, Einbrüche, eine Messerstecherei

Najibs Geschichte ist eine Erfolgsgeschichte, die Sozialarbeiter gern erzählen. Doch es gibt auch andere. Fast 1500 junge Flüchtlinge, die ohne Eltern oder Verwandte nach Deutschland kamen, leben in Hamburg. Die meisten sind Jungen. In der Umgebung der Feuerbergstraße, die auch Najibs erste Anlaufstelle in Hamburg war, klagten Nachbarn monatelang über Einbrüche, Erpressung, Überfälle. Immer wieder griff die Polizei in ganz Hamburg Jungs aus der Feuerbergstraße auf, die stahlen, sich auch untereinander prügelten. Die Behörden versuchten, die Jugendlichen anderswo unterzubringen, wollen sobald wie möglich mehrere dezentrale Aufnahmestellen schaffen, um die Situation zu entschärfen.

Mitte April stach dann ein minderjähriger Flüchtling einen anderen mit dem Messer nieder, in der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg, wo viele Flüchtlinge Vorbereitungsklassen besuchen. Der junge Afghane verblutete im Klassenzimmer. Am selben Tag brannte eine Unterkunft für straffällige junge Flüchtlinge, die aus der Feuerbergstraße in den Stadtteil Hammerbrook verlegt worden waren. Irgendjemand hatte eine Matratze angezündet, wahrscheinlich einer der Jungs, die hier wohnen, sagt die Polizei. Die Kinder und Jugendlichen sind oft schon der Polizei in anderen europäischen Ländern aufgefallen. Wenn es an einem Ort ungemütlich wird, ziehen sie weiter, leben häufig eine Zeitlang auf der Straße.

Sie hinterlassen einen Schaden, der über ihre tatsächlichen Straftaten hinausgeht. In Hamburg zum Beispiel bemühen sich die Behörden seit Monaten zu erklären, dass die Unkontrollierbaren drastische Einzelfälle sind. Allerhöchstens 40 der 1500 Jugendlichen seien problematisch, der Rest geradezu mustergültig. Die Debatte kommt für die Stadt zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Wie überall in Deutschland müssen die Behörden immer mehr Flüchtlinge unterbringen. 2015 will Sozialsenator Detlef Scheele bis zu 10 000 neue Plätze schaffen. Die Stadt muss dafür in den Bezirken, in denen Unterkünfte entstehen oder ausgebaut werden sollen, Überzeugungsarbeit leisten.

Engagement auf der einen Seite - Misstrauen auf der anderen

Das klappt meistens erstaunlich gut, erzählt Scheele beim Besuch einer Containerunterkunft im Stadtteil Lokstedt. Dicht an dicht stehen hier die einfachen Unterkünfte, teilweise leben vierköpfige Familien auf 15 Quadratmetern. Scheele will sich dort bei den vielen Freiwilligen bedanken, die sich für Flüchtlinge engagieren. "Detlef, spendierst Du uns einen Blumentopf?", ruft eine ältere Dame, die gerade zwischen den Containern Blumen einpflanzt, und schiebt gleich hinterher: "Ich darf doch Detlef sagen?" Scheele nickt und lacht, der Senator ist selbst ein forscher Typ, lässt sich Kritik und Anregung der Ehrenamtlichen gefallen, schaut in die Kleiderkammer der Unterkunft, die ebenfalls von einer Freiwilligen betreut wird. "Ohne die Ehrenamtlichen würden wir gar nicht zurechtkommen", sagt er bei einem Gespräch im Spielecontainer der Unterkunft.

Das ist die eine Seite: das Engagement der vielen Hamburger, die den Flüchtlingen helfen wollen. Die andere Seite ist das Misstrauen. In den Bürgerversammlungen der Stadtteile, die eine Unterkunft bekommen sollen, spielt die Angst vor Kriminalität eine große Rolle. Schließlich konnten die Hamburger in den vergangenen Monaten immer wieder von kriminellen Flüchtlingen in der Zeitung lesen. "Dafür, wie beengt und schlicht die Verhältnisse in den Unterkünften sind, passiert eigentlich relativ wenig", beschwichtigt der Senator.

Problemfälle dominieren die Debatte

Tödliche Messerstecherei in Hamburger Schule

Ein minderjähriger Flüchtling erstach im April an der Nelson-Mandela-Schule in Hamburg einen anderen im Streit.

(Foto: Daniel Bockwoldt/dpa)

Doch was bringen Statistiken, wenn das öffentliche Bild ein anderes ist - zumindestens in Teilen der Bevölkerung? Ein Bild zudem, das von den politischen Kräften am rechten Rand gern bedient wird. Die minderjährigen Flüchtlinge wurden in Hamburg zum Symbol dafür, wie falsch die Sache mit der Zuwanderung in der Stadt läuft.

Maßgeblich auf Initiative des Hamburger Senats bereitet die Bundesregierung nun ein Gesetz vor, wonach minderjährige Flüchtlinge besser über Deutschland verteilt werden sollen - und nicht wie bisher dort betreut werden, wo sie ankommen, also meistens in den Großstädten. Die seien längst an ihrer Belastungsgrenze, wird Senator Scheele nicht müde zu betonen. Aber ob das besser ist, traumatisierte Jugendliche in ostdeutschen Dörfern?, fragen die Kritiker der Initiative. Es ist eine Situation, in der es viele Meinungen und wenige Lösungen gibt - und überhaupt keine Lösung, die allen gefällt.

"Wenn Flüchtlinge Probleme machen, denken viele: Alle sind so", sagt auch Najib. Er selbst hat in der Feuerbergstraße einige üble Erfahrungen gemacht, seine Kleider, die er sich von seinem ersten Geld in Deutschland kaufte, waren schon einen Tag später verschwunden. "Da gibt es viele, die klauen, die schlagen andere, die haben keinen Respekt." Einige der jungen Flüchtlinge seien schwer traumatisiert, sagt Sozialarbeiter Kautz. "Ich habe hier junge Menschen erlebt, die fahren 200 Kilometer unter einem LKW versteckt, die ersticken halb in Containern oder sind beinahe im Meer ertrunken", erzählt er. Unterwegs müssten sie immer wieder Halt machen, Geld verdienen auf Großbaustellen im Iran, in Italien oder Griechenland. "Das passiert weit jenseits der Legalität."

"Wir haben so wenig Zeit, wir müssen lernen"

Nicht alle von ihnen finden sich nahtlos in Deutschland ein. Der Schulleiter der Nelson-Mandela-Schule in Wilhelmsburg etwa, wo im April der junge Afghane starb, konstatierte, dass eine Schule mit der Art von Traumata, die Flüchtlinge häufig mitbrächten, überfordert sei. Und Senator Scheele beklagt, dass es in Hamburg zu wenige Therapeuten gebe, die zur schwierigen Arbeit mit den Flüchtlingen bereit wären: "Wir sind auf sowas nicht eingestellt."

Najib hingegen hat sich aus allen kriminellen Dingen in der Feuerbergstraße herausgehalten. Schon am zweiten Tag in Hamburg fragte er nach einem Deutschkurs, machte noch in seiner Zeit in der Erstaufnahmestelle ein Praktikum in einem nahegelegenen Kindergarten. Hans Kautz berichtet, dass viele seiner Jugendlichen in soziale Berufe streben, Altenpfleger oder Kindergärtner werden wollen - also Jobs, die Deutschland dringend braucht. Kautz, der früher mit deutschen Problemjugendlichen gearbeitet hat, freut sich immer noch sichtlich, wie motiviert die Flüchtlinge sind. "Wenn da sechs Wochen Sommerferien sind, kommen sie sofort und fragen nach Kursen", sagt er. "Sie sagen: Wir haben so wenig Zeit, wir müssen lernen." Viele von ihnen kämen ja explizit nach Deutschland, um sich ein besseres Leben aufzubauen. Und seien deswegen bereit, alles dafür zu tun - und zwar nicht trotz, sondern gerade wegen der Strapazen, die sie auf sich nehmen mussten.

"In Afghanistan ist das nicht wie hier, wo alle zur Schule gehen, eine schöne Wohnung haben und Arbeit", sagt auch Najib. Seine Mutter wurde getötet, als er noch ein Kind war, mit seinem Vater lebte er in einem jener abgeschiedenen Bergdörfer, wo die Taliban kaum dem Kindesalter entwachsene Jungen als Soldaten rekrutieren. "Ich konnte nicht zur Schule in der nächsten Stadt gehen, es war zu unsicher", sagt er. Als Najib 14 Jahre alt wurde, entschlossen sein Vater und er sich zur Flucht. Über Pakistan gelangten sie in den Iran. "Obwohl ich noch so klein war, musste ich dort auf einer Baustelle arbeiten, um Geld für die Fahrt nach Europa zu bekommen." Schließlich hatten sein Vater und er nach zwei Jahren Geld zusammen, um Schlepper zu bezahlen. Das Geld reichte aber nur für einen, Najibs Vater blieb zurück. Bis heute hat der junge Mann nichts mehr von ihm gehört. "Ich weiß nicht, ob er noch im Iran ist oder in Afghanistan", sagt Najib und blickt auf den Tisch. Zum ersten Mal in dem Gespräch wirkt er verzagt.

Auch Najib hat eine lange Reise hinter sich

Die Schlepper brachten den Jungen in die Türkei, nach Ankara und Istanbul. Immer wieder musste er auf seiner Flucht lange Strecken zu Fuß laufen in seinen schlechten Schuhen, drei Tage allein hetzte er gemeinsam mit anderen Flüchtlingen durch die Berge an der Grenze zu Griechenland, schlief im Schnee. Das Wasser ging aus, Essen hatte die Gruppe ohnehin kaum dabei. Najib holte sich Erfrierungen an den Beinen. Irgendwann griffen andere Schlepper die Gruppe auf und brachte sie nach Griechenland, von dort ging es mit dem Schiff weiter nach Italien. Najib stieg in Mailand in einen Zug, versteckte sich auf der Toilette, fuhr immer weiter und stieg schließlich in Hamburg aus. "Ich stand am Bahnhof und hatte keine Ahnung, in welchem Land ich bin." Er traf dort einen anderen Afghanen, der brachte Najib zur Aufnahmestelle in der Feuerbergstraße. Den Dolmetscher, der mit ihm die Formulare ausfüllte, fragte Najib als erstes: "Bruder, wo bin ich eigentlich?" Najib verdreht die Augen über sich selbst, während er erzählt: "Da haben die vielleicht gelacht in der Aufnahmestelle!"

Inzwischen ist er 18 Jahre alt. In den nächsten Monaten macht er seinen Hauptschulabschluss, danach will er noch den Realschulabschluss machen. Und dann? Vielleicht Erzieher werden, auf jeden Fall die Deutschen besser kennenlernen. Leicht wird das nicht, trotz allem, was Najib bisher geleistet hat. Mit 21 Jahren fallen die Flüchtlinge spätestens aus der Jugendhilfe, sie müssen dann auf eigenen Beinen stehen, eine Wohnung finden. Während es gut vernetzten Sozialarbeitern wie Kautz meistens gelingt, Ausbildungsstellen beim örtlichen Glaser oder KFZ-Mechaniker zu besorgen, wird es bei der Wohnungssuche schwer. "Viele Vermieter wollen keine Flüchtlinge, weil sie sagen: Wir haben schon genug Probleme", sagt Hans Kautz.

Junge Männer wie Najib haben zu diesem Zeitpunkt die Erstaufnahme in der Feuerbergstraße zwar längst hinter sich gelassen, eine fremde Sprache gelernt, vielleicht einen Schulabschluss in der Tasche, eine Ausbildung absolviert. Doch ein Stückchen Feuerbergstraße bleibt an ihnen hängen - zumindest wenn sie auf Vermieter, Arbeitgeber und Nachbarn treffen, die nur die Polizeiberichte kennen und nicht die Flüchtlinge selbst.

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