"Von wegen Meisterstück, die Morandi-Brücke ist ein Versagen der Ingenieurwissenschaft." Der Satz stammt von Antonio Brencich, Professor an der Universität in Genua und Experte für Stahlbeton.
Aber der Satz, der sich wie ein Kommentar zum Brückeneinsturz vom Dienstag anhört, bei dem mindestens 30 Menschen ums Leben kamen, ist zwei Jahre alt. Mit seiner klaren Wertung hatte Brencich das ausgesprochen, was sowohl Experten als auch Anwohner Genuas finden - nämlich dass die Brücke neu aufgebaut werden müsste. Aussagen, die von der traurigen Realität eingeholt werden.
In einem Interview mit dem italienischen Sender Primocanale erklärte der Professor im Mai 2016: "Es wird der Moment kommen, in dem die Kosten der Instandhaltung höher liegen werden als die Kosten, die Brücke einfach zu ersetzen. Bereits Ende der Neunziger lagen die Ausgaben 80 Prozent über den Baukosten."
Schuld daran dürfte Riccardo Morandi sein, ein 1989 verstorbener italienischer Ingenieur und Architekt, unter dessen Namen die Brücke auch firmiert. 1957 hatte Morandi zum ersten Mal für einen Brückenbau spezielle Spannseilstrukturen mit isostatischen Balken kombiniert - und zwar in Venezuela. 1962 wurde die General-Rafael-Urdaneta-Brücke über den Maracaibo-See fertiggestellt. Knapp zwei Jahre nach der Eröffnung kollidierte ein Öltanker mit zwei der Brückenpfeiler und ließ diese einstürzen. Morandi hatte sich offenbar bei der Konstruktion verkalkuliert - der Unfall kostete fünf Menschen das Leben. "In der Planung hatte man wohl nicht berücksichtigt, dass so etwas passieren könnte", kommentiert Professor Brencich in dem Interview.
Trotzdem konstruierte Morandi zwei weitere Brücken in ähnlichem Stil. 1967 wurde das "Viadukt von Polcevera", die nun eingestürzte Brücke, in Anwesenheit des damaligen Staatspräsidenten Giuseppe Saragat eingeweiht, 1971 stellte Morandi eine Brücke in Libyen fertig. "Eine Brücke dieser Form war zu dieser Zeit sehr innovativ", konstatiert Brencich.
Aber ähnlich wie in Maracaibo kam es auch in Genua bald zu Problemen. Immer wieder waren umfangreiche Instandhaltungsarbeiten notwendig, in den Neunzigern mussten zusätzlich neue Stahlseile eingezogen werden, um die Brücke zu stabilisieren. Morandi hatte sich verkalkuliert, was die "deformazione viscosa" betrifft, sprich, was mit dem Stahlbeton im Laufe der Zeit passiert.
Dass der Ponte Morandi nun einstürzte, lag Brencich zufolge jedenfalls nicht am starken Regen, wie viele bereits vermuteten. "Es liegt schlicht an den Verfallserscheinungen", zitiert ihn das italienische Onlinemagazin Linkiesta. Es gebe Brücken aus Stahlbeton, die auch nach hundert Jahren nicht repariert werden müssten, so Brencich. "Das System, mit dem Morandi Brücken baute, hat offensichtliche Probleme. Im Übrigen wird es schon einen Grund geben, warum es auf der ganzen Welt nur drei davon gibt."
Vor neun Jahren ließ der Autobahnbetreiber Autostrade per l'Italia bereits berechnen, wie lange es dauern würde, die Brücke kontrolliert abreißen zu lassen. Das Ergebnis: acht bis zwölf Monate. Wirklich verfolgt hat jedoch niemand diese Option. Auch im Moment des Zusammenbruchs der Morandi-Brücke waren gerade Reparaturarbeiten durchgeführt worden, ließ Autostrade per l'Italia wissen. Vor wenigen Monaten war die Sanierung des Viadukts für 20 Millionen Euro ausgeschrieben worden.
Brencichs Schlussfolgerung über den Architekten Riccardo Morandi ist ebenso eindeutig wie fatal: "Er war ein Ingenieur mit großer Intuition, aber ohne große Übung im Kalkulieren."