SZ-Serie "Ein Anruf bei ...":"Liebe Fahrraddiebe, eine freundliche Erinnerung: Wir sind viele, und wir finden euch"

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Fahrradfahren wird in Reykjavík immer beliebter, doch auch die Diebstähle nehmen zu. (Foto: Ragnar Th. Sigurdsson/imago images)

Der isländische Busfahrer Bjartmar Leósson hat schon Hunderte geklaute Fahrräder gefunden und ihren Besitzern zurückgegeben. Er verpetzt die Diebe nicht - manche helfen ihm sogar.

Interview von Paul Lütge

Irgendwann hat es ihm gereicht: Bjartmar Leósson scrollte eines Samstagmorgens durch Facebook und las, dass schon wieder sechs Fahrräder in Reykjavík gestohlen wurden - in einer Nacht. Der 44-Jährige beschloss, die Diebe selbständig aufzuspüren und die Fahrräder ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzubringen. Jetzt, ein paar Jahre und Hunderte zurückgeholte Fahrräder später, verweist sogar die Polizei an ihn, wenn auf Island jemand sein Fahrrad nicht mehr finden kann.

SZ: Herr Leósson, sind Sie der Sherlock Holmes von Island, die bessere Polizei?

Bjartmar Leósson: Nein, ich bin eigentlich Busfahrer. Aber wenn ich Zeit habe, helfe ich Leuten, ihre geklauten Fahrräder zu finden. Manchmal passiert das auch während der Arbeit: Im Sommer bin ich mit meinem Bus an einem Fahrrad vorbeigefahren, von dem ich wusste, dass es geklaut war. Aber ich hatte einen Passagier, konnte nicht stoppen. Als ich die Person an ihrer Haltestelle rausgelassen habe, schickte ich dem Besitzer eine Nachricht - aber das Fahrrad war schon wieder weg.

Warum helfen Sie Menschen, ihre Fahrräder zurückzubekommen?

Weil ich diese Ungerechtigkeit direkt vor meiner Nase sehe, und die Polizei nichts dagegen tut. Bis vor Kurzem stapelten sich geklaute Fahrräder zum Beispiel vor Unterkünften von Obdachlosen. Einmal habe ich gesehen, wie die Polizei dran vorbeigefahren ist, sie nicht beachtet hat. Dann bin ich selbst hingegangen - und habe die Fahrräder zurückgeklaut, als alle drinnen waren.

Das hat die Fahrraddiebe bestimmt nicht gefreut.

Am Anfang gab es oft Stress. Gebrülle, Rumgeschreie, aber zum Glück keine Schlägereien. Es gab diesen einen Kerl, den ich bestimmt 50 Mal konfrontiert habe, mit 50 gestohlenen Rädern. "Hey Mann, das ist doch geklaut, das Fahrrad", sagte ich. "Nein Mann, ist es nicht", sagte er, und immer so weiter.

Warum verpetzen Sie die Diebe nicht einfach bei der Polizei?

Mir geht es nicht darum, jemanden einzubuchten. Die Diebe sind oft Drogensüchtige, Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen. Ich habe nach und nach mein Verhalten geändert: bin ruhig geblieben, wenn ich jemanden mit einem gestohlenen Fahrrad gesehen habe und habe den Dieben von mir erzählt, was ich mache. Viele Obdachlose hier in Reykjavík kennen mich mittlerweile. Und der Typ, mit dem ich so oft Streit hatte, hilft mir jetzt sogar bei der Suche nach Fahrrädern. Vor Kurzem haben wir fünf Fahrräder an seine Obdachlosenunterkunft gespendet.

Bjartmar Leósson, 44, arbeitet als Busfahrer und sucht in seiner Freizeit nach gestohlenen Fahrrädern. (Foto: Foto: Privat)

Wieso kümmern Sie sich ausgerechnet um gestohlene Fahrräder?

Weil ich selbst ein Fahrradfreak bin: Ich erinnere mich noch daran, als ich das erste Mal auf einem Dreirad saß, mit zwei Jahren - das war gigantisch. Als Teenager habe ich bei Mountainbike-Rennen mitgemacht, ein paarmal wurde ich Zweiter oder Dritter. Fahrräder waren immer ein großer Teil meines Lebens. Ich habe oft billige und unzuverlässige Autos, und wenn die kaputtgehen, kann ich immer aufs Fahrrad zählen.

Wie finden Sie die gestohlenen Fahrräder in Reykjavík?

Es gibt im Stadtzentrum ein paar Orte, an denen sich Fahrraddiebe rumtreiben. In Hinterhöfen, bei Supermärkten, ein paar kleine Gassen. Wenn ich selbst im Zentrum bin, laufe ich da immer mal wieder rum und schaue nach, ob ich ein Fahrrad finde. Und ich vertraue auf die Community: In unserer Facebookgruppe sind wir 14 500 Menschen. Ganz schön viele bei etwa 140 000 Einwohnern hier in der Stadt, oder? Hier können alle posten, wenn sie ein Fahrrad vermissen, und anderen helfen. Manchmal poste ich in der Gruppe eine Warnung: " Liebe Fahrraddiebe, eine freundliche Erinnerung: Wir sind viele, und wir finden euch." Jetzt suche ich aber auch andere Dinge: Kürzlich habe ich zum Beispiel ein Auto gefunden, das geklaut wurde. Es stand mitten im Stadtzentrum, nicht weit weg vom Polizeirevier.

Wie steht es um Ihre eigenen Fahrräder - haben Sie überhaupt noch Zeit, selbst eine Runde zu drehen?

Momentan nicht wirklich. Vor anderthalb Jahren hatte ich 15 Fahrräder, viel zu viele. Dann dachte ich: "Okay, ich brauch' doch eigentlich nur ein Fahrrad, wie ein normaler Mensch" - und habe alle anderen weggebracht. Ich kriege aber immer mal wieder Fahrräder geschenkt und kann einfach nicht Nein sagen. Jetzt habe ich sechs. Und muss zugeben: Gerade sammeln sie ein bisschen Staub an.

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