Gewalt in der Pflege:"Ich wollte meine Ruhe haben, aber ich wollte ihn nicht umbringen"

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Ein Platz im Pflegeheim ist für die Angehörigen sehr teuer. (Foto: picture alliance / dpa)
  • Ein Mann muss sich vor dem Landgericht Leipzig verantworten, weil er seinen Vater mit einem Stück Holz geschlagen und dann liegen gelassen haben soll bis er starb.
  • Der Vater litt an Demenz und war pflegebedürftig, der angeklagte Sohn streitet die Tat ab.
  • Ein Urteil ist Anfang Dezember zu erwarten.

Von Thomas Hummel

Als Paul-Heinz V. das Altenheim Nexö in Leipzig verließ, ahnte die Altenpflegerin Schlimmes. Der 72-Jährige litt an Demenz und Diabetes, je nach Tagesform mussten sie und ihre Kollegen ihm helfen, sich an- und auszukleiden, Nahrung und Medikamente zu sich zu nehmen, die Zähne zu putzen, sich zu waschen. In schlechten Phasen wandelte er nachts durch die Gänge, konnte seine Ausscheidungen nicht kontrollieren. Das Bett war dann voll mit Urin oder Kot, auch mal das Bad. Als der Sohn kam, um den kranken Mann zu sich nach Hause zu holen, antwortete die Pflegerin auf die Frage, ob die Pflege vom Sohn alleine zu leisten sei: "Ne, glaub ich nich!" Das war am 28. Februar. Am 30. März war Paul-Heinz V. tot.

Jetzt steht Maik V. vor dem Landgericht Leipzig, die Anklage lautet auf Totschlag. Der Staatsanwalt wirft ihm vor, den Vater mit einem 85 Zentimeter langen und mehrere Zentimeter dicken Holz geschlagen und damit den Tod mitausgelöst zu haben. Die Lage sei unter anderem deshalb eskaliert, weil er mit der Pflege überfordert gewesen sei. Obwohl der Angeklagte seine Unschuld beteuert, glaubt nicht einmal seine Verteidigung an einen Freispruch. Ein Urteil ist Anfang Dezember zu erwarten, Maik V. drohen bis zu 15 Jahre Haft.

Innerhalb von 30 Tagen geriet in der Wohnung das Leben von Vater und Sohn aus den Fugen. Der Zeitraum war offenbar zu kurz für die Behörden, um rettend einzugreifen. Weil am Ende ein Mensch mutmaßlich gewaltsam zu Tode kam, ist dies ein besonders krasser Einzelfall. Und doch wirft er ein Schlaglicht auf die alltäglichen Nöte, die viele pflegende Angehörige haben.

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1,38 Millionen Pflegebedürftige werden in Deutschland zu Hause von Verwandten betreut. Für die Angehörigen ist das oft ein Weg in die Isolation. Gerade bei Demenzkranken ist die Pflege ein 24-Stunden-Job. Nach einer aktuellen Untersuchung der Krankenkasse DAK erklären 59 Prozent der Menschen, die zu Hause einen Demenzkranken betreuen, überfordert zu sein. Oftmals derart überfordert, dass die Situation aus dem Ruder läuft: Knapp 40 Prozent all jener, die zu Hause gepflegt werden, werden Opfer von Gewalt, hat vor einigen Jahren das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen festgestellt. Das geht von Vernachlässigung, Einschränkung von Freiheiten bis hin zu Anschreien und körperlicher Misshandlung.

Ein Platz im Pflegeheim ist teuer. Da geht schnell das ganze Erbe drauf

Das Drama in Leipzig begann, als im Mai 2016 V.s Ehefrau starb. Daraufhin ging die sogenannte Vorsorgevollmacht auf den Sohn über, Maik V. bestimmte nun über seine Angelegenheiten. Im Oktober musste Paul-Heinz V. ins Krankenhaus, die Klinik schrieb sogleich einen Brandbrief an die Behörden: Der Mann sei verwahrlost, er habe kognitive Defizite und Depressionen, zudem bekomme er offenbar nicht regelmäßig Medikamente gegen seinen Diabetes. Daraus schlossen die Mediziner, dass der Sohn mit der Pflege nicht zurechtkomme, und empfahlen eine Einweisung ins Heim.

Maik V. lehnte ab. Einerseits wollte er nach Aussage seiner Verteidigerin Vanina Seidel seinen Vater nicht weggeben, wollte sich selbst kümmern, wie so viele Angehörige. Andererseits war er wegen Betrugsdelikten bereits im Gefängnis gewesen, hatte eine Menge Schulden. Er ahnte, dass er sich die Zuzahlung für den Heimplatz nicht würde leisten können. Würde er beim Sozialamt einen Zuschuss beantragen, müsste er seine Finanzen offenlegen. Vermutlich hätte er das Elternhaus verkaufen müssen.

Angela Danquah kennt solche finanziellen Bedenken. Sie leitet die Fachstelle für pflegende Angehörige bei der "Hilfe im Alter" in München. Bei ihr melden sich Menschen, die sich im Wust der Pflegegesetze verirren. Die nicht wissen, wo sie was beantragen können. Oder die mit der seelischen Belastung nicht klarkommen, die verzweifelt ins Telefon weinen. "Oft wollen Ehepartner oder Kinder nicht, dass der Angehörige ins Heim kommt, weil sonst das ganze Ersparte draufgeht", berichtet sie. Es sei schwierig zu erklären, dass die Leute nicht für ihre Kinder gespart haben, sondern für ihr eigenes Alter. Pflege sei teuer. "Es wird von der Politik verkauft, dass es kein Problem ist. Aber es ist ein Riesenproblem."

Auf Druck des Sozialdienstes und der Behörden stimmte Maik V. im November 2016 dennoch zu, den Vater ins Heim zu geben. Dort mussten dessen Kleider erst mal in die Wäscherei, weil sie stanken. Die Altenpflegerin erzählt vor Gericht, dass Paul-Heinz V. vom Leben im Heim anfangs "nicht begeistert" gewesen sei. Bald aber sei er besser zurechtgekommen, habe sich mit seinem Zimmernachbarn gut verstanden. "Er war ein ganz lieber, netter Opa. Er hat wunderbar mitgemacht", sagt sie. Auch den Sohn beschreibt sie als freundlich. Die Stimmung verschlechterte sich allerdings, wenn die beiden zusammen waren: "Der Vater hat den Sohn keines Blickes gewürdigt."

Schon bald sagte Maik V. der Pflegerin, dass er sich den Platz im Heim gar nicht leisten könne. Mehr als 900 Euro im Monat betrug der Eigenanteil, die Rechnungen blieben einfach unbeglichen. Als die Heimverwaltung Druck machte, kam es zum Streit. Am 28. Februar folgte der Auszug.

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Ein Sozialpädagoge der Stadt Leipzig forderte das Amtsgericht auf, dem Sohn die Vollmacht zu entziehen. Das dauert allerdings eine Weile, dazu muss erst jemand von der Betreuungsstelle und dann ein Psychiater feststellen, dass der Angehörige mit der Pflege überfordert ist. Erst nach einem Gerichtsentscheid wird ein gesetzlicher Betreuer bestellt. Im Fall der Familie V. kam es dazu nicht mehr.

Gewalt in der häuslichen Pflege ist ein Tabu. Angela Danquah berichtet, dass Angehörige sich erst öffnen, wenn ein großes Vertrauensverhältnis besteht - weil sie sich schämen, dass ihnen die Situation entglitten ist. Das Angebot des Staates sowie der Gesundheits- und Pflegekassen ist formal umfangreich. Das Bundesfamilienministerium unterhält zum Beispiel ein Pflegetelefon, wo Angehörige in Notsituationen anrufen können, es kooperiert wiederum mit dem Alzheimer-Telefon und der Telefonseelsorge.

Es gibt Haushaltshilfen, ehrenamtliche Demenzhelfer, Plätze in Tagespflege-Einrichtungen und vieles mehr. Doch selbst wenn etwa eine Putzhilfe bezahlt wird, muss man erst einmal eine finden. Die Hauptsorge vieler pflegender Angehöriger bleibt trotz aller Angebote das Geld. Viele nutzen deshalb den riesigen Markt der osteuropäischen Pflegekräfte, die zu günstigen Konditionen in deutschen Haushalten wohnen. Der spielt sich aber oft in rechtlichen Grauzonen ab.

Maik V. hat sich niemandem anvertraut, er scheint sich verstrickt zu haben im Dickicht von Ratgebern und Vorschriften. Erst jetzt, im Prozess, kommt heraus, wie ihm alles über den Kopf gewachsen ist. In der Polizeivernehmung erzählte er, sein Vater sei mehrmals gestürzt und habe ihm verboten, einen Notarzt zu rufen - als Bevollmächtigter hätte er sich darüber hinwegsetzen müssen. Außerdem habe der alte Mann wiederholt Pflegemaßnahmen abgelehnt und nicht mehr mit ihm kommuniziert, er habe ständig alles wiederholen müssen. Da seien ihm die Nerven durchgegangen. Mit dem Holz, das er eigentlich für Tischlerarbeiten benötigte, habe er seinen Vater geschlagen. "Ich wollte meine Ruhe haben, aber ich wollte ihn nicht umbringen. Ich habe meinen Vater geliebt."

Die Staatsanwaltschaft wirft ihm vor, den schwer verletzten Vater in der Wohnung sich selbst überlassen zu haben. Dort starb er an einer Lungenembolie. Auf einem Computer in der Wohnung fanden die Ermittler Spuren, dass er am Todestag eine Stunde lang bei Google Suchwörter eingegeben hat wie "Tod durch Sturz in Badewanne". Erst danach rief er den Notarzt.

© SZ vom 16.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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