Prozess in Frankfurt:Erschreckendes Gefühl der Hilflosigkeit

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Die Tat hatte die Menschen schockiert: Die Gedenkstelle am Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs, wo im vergangenen Jahr ein Kind getötet wurde. (Foto: Arne Dedert/dpa)

Der Mann, der im Frankfurter Hauptbahnhof eine Frau und ihren Sohn auf die Gleise gestoßen hatte, muss dauerhaft in die Psychiatrie. Es ist das Ende einer für alle Beteiligten sehr belastenden Verhandlung.

Von Matthias Drobinski, Frankfurt

Am Ende bleibt dem Vorsitzenden Richter Jörn Immerschmitt nicht viel mehr als der Versuch, in Worte zu fassen, was nicht zu fassen ist: Am 29. Juli vor einem Jahr hat Habte A. den achtjährigen Leo auf Gleis 7 des Frankfurter Hauptbahnhofs gestoßen, auch dessen Mutter, dann eine Frau attackiert, die auf dem Bahnsteig liegen blieb. Ohne Warnung, von hinten, weil Stimmen ihm gesagt hätten, er müsse dies tun. Die Mutter des Kindes konnte sich retten. Leo aber wurde von einem anfahrenden ICE überrollt und war tot.

"Die Verhandlung war für uns alle sehr belastend", sagt Richter Immerschmitt. Er erinnert an die "Zeugen, die hier Tränen vergossen haben". Er zollt dem Vater des Kindes höchsten Respekt, der als Nebenkläger am Rande seiner Kräfte den Prozess am Frankfurter Landgericht verfolgt hat: "Ihr Sohn wäre stolz auf Sie", sagt er. Auch ihn, den Richter, habe der Fall an seine Grenzen gebracht, die juristische Aufarbeitung habe "das erschreckende Gefühl der Hilflosigkeit" nicht überwinden können.

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Was ging in Habte A. vor, bevor er eine Mutter und ihr Kind vor den Zug stieß? Zwei Polizistinnen berichten, wie der Mann nach der Festnahme wirkte und was sich aus den Überwachungsvideos im Bahnhof herauslesen lässt.

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Habte A., der heute 41-jährige Mann, der aus Eritrea stammt, bleibt ohne Strafe. Das Gericht sieht ihn als schuldunfähig an. Es folgt damit der Bewertung des psychiatrischen Gutachters, der bei A. eine paranoide Schizophrenie diagnostiziert hat. Das Urteil ordnet die Unterbringung im geschlossenen Maßregelvollzug an, auf unabsehbare Zeit, was in diesem Fall lebenslang bedeuten kann. "Die Allgemeinheit muss vor ihm geschützt werden", sagt Immerschmitt, bis keine Gefahr mehr bestehe. Nach Ansicht des Gutachters ist die schwere psychische Erkrankung von A. zwar zu mildern, aber letztlich nicht zu heilen. "Die Unterbringung in der Psychiatrie ist der gefürchtetste Eingriff in die Freiheit", sagt der Richter, "sie kennt keine Grenze." Er sage dies auch, um dem "Stammtischgerede" von der angeblich zu großen Milde des Gerichts entgegenzutreten.

Von 2018 an habe er Stimmen gehört, sagt der Angeklagte

Noch einmal skizziert er die Lebensgeschichte des Angeklagten, der dasitzt, es ginge es hier um einen ganz anderen: die unauffällige Kindheit und Jugend in Eritrea, den Militärdienst und die Desertation, im Jahr 2008 die Flucht in die Schweiz, wo er in Basel eine gute Anstellung findet, heiratet, Vater dreier Kinder wird.

Von 2018 an, so hat es A. erzählt, seien dann die Stimmen aufgetaucht, die ihm Befehle gegeben hätten. Mehr und mehr sah A. seine Mitmenschen als Feinde an, irrte durch halb Europa, kam in der Schweiz in psychiatrische Behandlung. Die Medikamente, ohnehin in viel zu niedriger Dosis verschrieben, setzte er eigenmächtig ab.

Am 25. Juli war er in Frankfurt, vier Tage schlief er kaum, trank viel, steigerte sich in seinen Wahn. An jenem unheilvollen 29. Juli trieb es ihn seit kurz vor 6 Uhr durch den Frankfurter Hauptbahnhof. An die Tat, hat A. gesagt, könne er sich nicht erinnern. Sollte er sie so begangen haben, täte sie ihm unendlich leid, sie träte mit Füßen, woran er als orthodoxer Christ glaube.

Die Unterbringung A.s in der Psychiatrie ist an diesem Mittag keine Überraschung. Wohl aber, dass das Gericht die Stöße gegen Mutter und Kind als Mordversuch und Mord wertet - die Staatsanwaltschaft hatte auf Totschlag und versuchten Totschlag plädiert. Unabhängig von seiner Schuldunfähigkeit habe bei A. ein "Ausführungsbewusstsein" bestanden, er habe bewusst und heimtückisch die Arglosigkeit seiner Opfer ausgenutzt - um seine inneren Stimmen zu beruhigen. Den Stoß gegen die heute 79-jährige Frau, die bis heute an einem komplizierten Bruch leidet, wertete das Gericht als Körperverletzung.

Mord und Mordversuch - das sei den Nebenklägern wichtig gewesen, sagt nach dem Urteil der Anwalt der Eltern des getöteten Leo, Ulrich Warncke. Und fügt hinzu: "Jetzt fängt die eigentliche Trauerarbeit an."

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