Fall Mirco:An einem anderen Ort

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Vor mehr als 100 Tagen verschwand der damals zehnjährige Mirco. Die Hoffnung, den Jungen lebend zu finden, hat die Polizei aufgegeben. Sie ist sich jedoch sicher, den Täter zu fassen. Bis dahin bleibt die Ungewissheit.

Bernd Dörries

Früher sind in dieser Kurve Menschen gestorben, weil die Biegung der Landstraße so unübersichtlich war. Vor ein paar Jahren haben sie eine neue Strecke gebaut, dann ist es besser geworden. Die alte Kurve wurde zu einem langen Parkplatz, den man das Heitzerend nennt.

Am 3. September war Mirco gegen zehn Uhr abends auf dem Rückweg von der Skaterbahn nach Hause. An der Bushaltestelle trennte er sich von seinen Freunden und fuhr mit dem Mountainbike los. Doch bei seinen Eltern kam er nie an. Seitdem fehlt jede Spur von ihm. (Foto: dapd)

Im Gebüsch neben dem Parkplatz fand man die letzte Spur des zehnjährigen Mirco aus dem nahen Grefrath, von dem die Polizei annimmt, dass er nicht mehr lebt. Seine Kleidung lag im Gebüsch. Vielleicht ist Mirco hier auch gestorben, zwischen der alten und der neuen Kurve. Man kann Kurven entschärfen, aber nicht alle Gefahren, die es gibt in dieser Gesellschaft.

Brief der Eltern

Der Parkplatz wurde für die schon Trauernden und für die noch Hoffenden zu etwas Greifbarem. Zu einem Ort, der eine Verbindung schafft zu Mircos Verschwinden. Die Stadt hat eine Straßenlaterne aufgestellt, die Polizei einen Glaskasten mit Neonlampe. Sie hängt hier die neusten Fahndungsaufrufe hinein, auch ein Brief der Eltern ist dabei: "Für viele ist er ein Junge, der seine Zeit damit verbringt, sich die Haare zu gelen, mit seinen Freunden zu spielen, der den Schulalltag mal mehr, mal weniger begeistert angeht. Für uns ist er einzigartig. Mirco war schon als Baby ein Sonnenschein."

Der Brief ist im Präsens verfasst, drei Wochen nach der Tat haben ihn die Eltern geschrieben. Mittlerweile wird schon mehr als hundert Tage nach dem Sohn gesucht, die Polizei hat keine Hoffnung mehr, ihn lebend zu finden. Sie ist sich aber ziemlich sicher, den Täter fassen zu können.

Anonyme Hinweise im Briefkasten

"Er hat Fehler gemacht", sagt Ingo Thiel, der Leiter der Sonderkommission Mirco. Thiel ist an diesem Tag zum Parkplatz nahe Grefrath am Niederrhein hinausgefahren, um den Briefkasten zu kontrollieren, den sie hier aufgestellt haben. Bis heute gehen Hinweise ein zum Verschwinden von Mirco, manche anonym im Briefkasten, andere bei der Polizei. Für die Öffentlichkeit sehe es vielleicht manchmal so aus, als komme man nicht voran, sagt Thiel. "Wenn man ähnliche Fälle betrachtet, stehen wir aber eher noch am Anfang unserer Suche."

Am 3. September war Mirco gegen zehn Uhr abends auf dem Rückweg von der Skaterbahn nach Hause. An der Bushaltestelle trennte er sich von seinen Freunden und fuhr mit dem Mountainbike los. Zu Hause kam er nie an. Erst fand die Polizei sein Fahrrad, später die Kleidung, dann das Handy. Die Fundorte liegen so, dass Sokoleiter Thiel davon ausgeht, dass der Täter aus der Region stammt. Ein Zeuge hat einen dunklen Passat gesehen, 800 Fahrzeuge hat die Polizei bisher überprüft, 15.000 Passat hat sie erfasst. 150.000 Mal habe der Hersteller dieses Modell gebaut.

"Wenn der richtige Wagen dabei ist, hat der Täter verloren", sagt Thiel. An Mircos Handy hat die Polizei Spuren gefunden, vom denen sie sagt, sie reichten aus, den Täter zu überführen, wenn er vor ihnen steht. "Bislang hat er Schwein gehabt. Aber nicht mehr lange."

Thiel ist ein Anhänger des klaren Wortes. Seit 20 Jahren sucht er Mörder, seit 20 Jahren steht er manchmal nachts auf und raucht eine Zigarette, überlegt, ob man nicht etwas vergessen hat. Wenn die Menschen mit ihm über seine Arbeit sprechen, dann tun sie das oft bedächtig und mit leiser Stimme. Thiel hat seine Sprache nicht dem Tod angepasst, aber das hat nichts Respektloses. Es wirkt, als müsse man so reden, um eine gewisse Normalität aufrechtzuerhalten nach 20 Jahren Mord. Er wirkt, als würde ihm sein Beruf Spaß machen, was man aber wohl nicht sagen darf.

"Da kann man sich nicht hineinversetzen"

Als Thiel neulich im Fernsehen mit einer Zigarette am Parkplatz stand, mit seiner Schimanski-Jacke, da hat er sofort einen Anruf bekommen. Wie könne er rauchen, an so einer Stelle. "Die Menschen haben feste Vorstellungen, wie man sich verhalten soll nach einem Mord, nach einem Verlust", sagt Thiel. Er selbst wüsste nicht, wie er reagieren würde, wenn sein Sohn tot wäre, der fast so alt ist wie Mirco. "Da kann man sich nicht hineinversetzen." Auch nach 20 Jahren nicht.

Die Eltern von Mirco kommen immer wieder bei der Sonderkommission vorbei, vor ein paar Tagen hat die Mutter Schokolade zum Nikolaus gebracht. "Da haben viele von uns geschluckt", sagt Thiel. Sie haben sich gefragt, wo die Frau denn die Kraft hernimmt. Von dieser Frage, das weiß Thiel auch, ist es nicht weit zum Gerede: Ob das normal sei, ob es sich schicke, wieder in der Stadt herumlaufen, zum Einkaufen zu gehen, wie es die Mutter tut. "Ich habe den tiefsten Respekt davor, wie die Eltern mit dem Tod ihres Sohnes umgehen. Sie sind sehr gläubig, finden Halt. Sie wissen auch, dass sie Verantwortung für das Leben der drei anderen Kinder haben, das geht ja weiter."

Mehrere hundert Kinder in Deutschland gelten als dauerhaft vermisst, es sind Fälle dabei, da liegt das Verschwinden schon Jahrzehnte zurück. Den Hinterbliebenen kommt es trotzdem vor, als sei es gestern gewesen, weil sie keine Gewissheit haben. Weil sie denken: Was ist, wenn mein Kind in einem Keller eingesperrt ist wie Natascha Kampusch. Thiel kennt einen Vater, dessen Tochter vor 21 Jahren beim Joggen verschwand. Er kommt alle paar Wochen bei der Polizei vorbei und fragt, ob es etwas Neues gibt.

7700 Hinweise

An manchen Ortseingängen stehen Schilder, die auf das nächste Fest des Sportvereins hinweisen. Am Ortseingang von Grefrath steht ein Schild, auf dem die Polizei Zeugen bittet, sich zu melden. Im Fall Mirco hat man 7700 Hinweise erhalten, täglich kommen 50 neue dazu. In Grefrath schreiben die Menschen sich das Autokennzeichen auf, wenn ein dunkler Passat durch den Ort fährt.

Gerade hat Thiel die Erlaubnis bekommen, die Sonderkommission noch einmal aufzustocken, auf 65 Mitarbeiter. Es ist eine riesige Mannschaft, so wie die Suche nach Mirco rekordverdächtig war.

Hundertschaften haben 50 Quadratkilometer abgesucht. Thiel hat sich rechtfertigen müssen, warum man so viel für Mirco getan habe und für andere nicht. Man könne die Fälle nicht vergleichen, sagt Thiel.

Dort wo noch Beweismaterial liegen könnte, liegt jetzt Schnee. Ingo Thiel steht auf dem Parkplatz vor dem Briefkasten und raucht. "Eines ist sicher", sagt er. "Wir kriegen ihn." Schön wäre es, den Eltern zu Weihnachten Gewissheit geben zu können. Er weiß, dass das Wort schön nicht passend klingt in diesem Zusammenhang.

© SZ vom 16.12.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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