Vor Gericht wird Saldate sagen, Milke habe "versucht zu weinen". Was er damit bezweckt, scheint klar zu sein: Wer keine Tränen hat, der weint nicht. Und wer nicht weint, wenn das eigene Kind stirbt, ist gefühlskalt und damit schon mal verdächtig. Der unbarmherzige Ton gehört zu Saldates Verhörtechnik, auf die er stolz ist. Er sei sehr direkt, wird er dem Gericht erklären, gerne konfrontativ und provozierend.
"Wieder tat Debra so, als weine sie, und sie schrie, aber ich sah keine Tränen. Ich sagte ihr wieder, dass ich das nicht dulde. Ich erklärte ihr, dass ich nur aus einem einzigen Grund hier war: um die Wahrheit zu hören, und dass ich Lügen nicht dulde."
Auf die Spur Debra Milkes kam Saldate am Nachmittag jenes 3. Dezember. Der Polizist verhörte einen gewissen Roger Scott, der unter dem dringenden Verdacht stand, mit einem Mann namens Jim Styers für das Verschwinden des kleinen Christopher Milke verantwortlich zu sein. Styers, ein psychisch labiler Vietnam-Veteran mit posttraumatischen Störungen, war Debra Milkes Mitbewohner. Roger Scott, ein Alkoholiker, war mit ihm befreundet.
Tatsächlich gestand Roger Scott die Beteiligung an dem Mord, allerdings in verschiedenen Versionen. Eine Version lautete, Jim Styers, Milkes Mitbewohner, sei von dem Kind genervt gewesen und habe es deswegen erschossen. Eine andere war: Debra Milke habe Styers darum gebeten, weil sie ihren Sohn loswerden wollte. Gemeinsam ist den Versionen, dass Scott nicht geschossen haben wollte.
Jim Styers wiederum behauptete, Scott habe geschossen - und Debra Milke habe mit der Sache nichts zu tun. Beide wurden wegen des Mordes an Christopher Milke zum Tode verurteilt. Bei Scott wurde später Schizophrenie diagnostiziert und die Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Dass er Milke der Anstiftung beschuldigt hatte, wurde vor Gericht als Hörensagen verworfen. Roger Scott weigerte sich, im Verfahren gegen Milke auszusagen.
Jim Styers Hinrichtung ist nach wie vor geplant. Er bleibt dabei, dass Debra Milke unschuldig sei. Die einzige Verbindung Debra Milkes zu dem Mord an ihrem Sohn war das von Armando Saldate niedergeschriebene Geständnis. Es fehlte jeder Sachbeweis für ihre Beteiligung an der Tat.
Verstoß gegen das Rechtssystem
Vor Gericht stand also sein Wort gegen ihres, das Wort eines erfahrenen Polizisten und geübten Zeugen gegen das Wort einer geschiedenen, alleinerziehenden Mutter, die nicht gerade eine heile Welt vorweisen konnte: Debra Milke wurde als Tochter eines US-Soldaten geboren, der zum Alkoholiker wurde und die Familie tyrannisierte. Auch Milkes Ex-Mann, der Vater ihres Sohnes, war ein Trinker. Außerdem war er ein Gewohntheitskrimineller, der meist in Gefängnissen saß.
Die verkorkste Existenz ihres Ex-Mannes soll laut Saldate auch der Grund für Debra Milke gewesen sei, ihren Sohn töten zu lassen. In seinem Bericht behauptet Saldate, sie hätte ihm gesagt: "Ich wollte einfach nicht, dass er wird wie sein Vater."
Die Jury glaubte seinen Ausführungen. Allerdings wohl nur, weil die Justiz Arizonas gegen ein fundamentales Prinzip des US-Rechtssystems verstieß: Dieses besagt, dass Staatsanwälte nicht nur alles vortragen müssen, was einen Angeklagten belastet, sondern auch alles, was ihn entlastet. Und dazu gehören selbst Fakten, die Zeugen der Anklage diskreditieren und die Anklage unterminieren könnten.
Aber obwohl Milkes Verteidigung immer wieder klagte, dass ihr der Zugang zu Saldates Dienstakte verweigert werde, sorgte die Justiz nicht dafür, dass der Hintergrund des Polizisten - des einzigen Zeugen für Milkes angebliches Geständnis - ausgeleuchtet werden konnte.
Vorwürfe gegen Saldate mehren sich
Je länger Milkes Anwaltsteam sich aber durch die Instanzen kämpfte, desto mehr Unterlagen über Saldates Vorgeschichte tauchten auf. Es stellte sich unter anderem heraus, dass Saldate nachweislich viermal unter Eid gelogen hatte - davon zweimal, um Angeklagte schuldiger wirken zu lassen, als sie waren. In vier weiteren aktenkundigen Fällen hatten Gerichte Geständnisse anderer Beschuldigter verworfen oder Schuldsprüche widerrufen, weil Saldate die Rechte der Verdächtigen massiv missachtet hatte.
So wurde 1984 in Saldates Akte festgehalten, dass er einen Verdächtigen verhört hatte, der nach einer Schädelfraktur verwirrt in einem Krankenhausbett lag. Dessen Aussagen wurden anschließend sogar in eine Anklage aufgenommen, obwohl der Mann zur Zeit seiner Befragung durch Saldate nicht einmal in der Lage war, den Ärzten seinen Namen, das Jahr oder den gegenwärtigen Präsidenten zu nennen.