Dortmund:Hannibal ist brandgefährlich

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Bedrohte Betonburg aus Terrassenwohnungen: Das „Hannibal“ ist der größte Hochhaus-Komplex in Dortmund. (Foto: imago)

Der Dortmunder Hochhauskomplex ist geräumt, viele Bewohner suchen jetzt verzweifelt eine neue Bleibe. Und: einen Schuldigen.

Von Janis Beenen und Christian Wernicke, Dortmund

Fast sein halbes Leben lang hat Hans-Günther Seiberling im "Hannibal" gelebt. Hannibal, so nennen sie in Dortmund die Betonburg aus Terrassenwohnungen, die den Stadtteil Dorstfeld überragt. Der Komplex ist die größte Wohnanlage der Stadt: Knapp 800 Menschen sind hier untergekommen, Hans-Günther Seiberling, 73, hat hier schon vor 33 Jahren mit seinem Lebenspartner ein Appartement im sechsten Stock angemietet: "Eine tolle Wohnung, 80 Quadratmeter auf zwei Ebenen, für 513 Euro warm." Er will nicht weg. Aber er muss: Wegen Brandgefahr und "Gefahr für Leib und Leben" ließ die Stadtverwaltung in der Nacht zum Freitag alle 412 Wohnungen räumen und amtlich versiegeln. Als wäre dies ein Tatort.

Zuletzt, erzählt Seiberling, sind einige Flüchtlinge aus Nahost und Afghanistan hier eingezogen, "es ist manchmal laut, "aber wir kommen gut miteinander aus". Jedenfalls habe er sich nie unsicher gefühlt in seinem Hannibal, schon gar nicht wegen Feuergefahr. Aber jetzt: ordnete Ludger Wilde die Evakuierung an. Im Gebäude könne "jederzeit ein Brand ausbrechen", warnt der Leiter des Dortmunder Krisenstabs am Freitag, da sei schnell "mit nicht mehr zu rettenden Personen zu rechnen".

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Nach Hinweisen von Mietern hatten Experten am Dienstag entdeckt, dass die Versorgungsschächte direkt bis in die (mit Sperrmüll überladene) Tiefgarage führten - und dass aus diesen Schächten binnen Minuten Rauch in etliche Wohnungen hätte eindringen können. Auch die Fluchtwege, so der Vorwurf, wären im Ernstfall "völlig verraucht" gewesen. Eine Falle also.

Zwar lauern im Dortmunder Hochhaus keine Gefahren wie beim Londoner Grenfell Tower: Die Außenfassade ist aus Beton. Wilde sagt: "Der Hannibal hat ein inneres Problem." Schuld daran sei der Eigentümer, der Immobilien-Investor Intown. Der Firma wird nachgesagt, Großobjekte aufzukaufen, zu erneuern - und teuer zu verkaufen. "Die sammeln Schrott und machen Betongold draus", sagt Rainer Stücker vom Mieterverein Dortmund.

Intown ist Teil eines Konzerngeflechts, das der israelische Immobilientycoon Amir Dayan aufgebaut hat. Nach eigenen Angaben managt das Unternehmen hierzulande etwa 150 Objekte mit 2,2 Millionen Quadratmetern Mietfläche, 7000 Wohneinheiten und etlichen Hotels. Zuletzt gab es wiederholt Ärger um Intown-Immobilien. In Hannover stockte die Sanierung des Ihme-Zentrums. Ende Juni musste in Wuppertal ein Intown-Hochhaus wegen Brandschutzmängeln geräumt werden.

Nachfragen zum Dortmunder Fall blockt eine Sprecherin des Unternehmens ab. In einer ersten Stellungnahme bezeichnete Intown die Räumung des Wohnkomplexes als "nicht rechtens". Mit kleineren Maßnahmen hätte die Räumung vermieden werden können. Experten widersprechen dem, sie stärken der Stadt Dortmund den Rücken. Und Krisenstab-Chef Wilde sagt, Intown schere sich offenbar "weniger um seine Mieter als um seine Rechtsposition".

Ob es ein flächendeckendes Problem beim Brandschutz in deutschen Hochhäusern gibt, ist dagegen schwer zu sagen. "Verlässliche Statistiken fehlen", sagt Dirk Lorenz. Er forscht an der Technischen Universität Kaiserslautern zum Thema. "Das Sicherheitsniveau in Deutschland ist grundsätzlich hoch", sagt der Brandschutzexperte. Dennoch gebe es Altlasten aus den 70er- und 80er-Jahren. "Damals war man noch nicht so sensibel beim Schutz."

Eher Monate als Wochen, bis Leben einzieht im Hannibal

Die meisten der 800 Hannibal-Bewohner nun kamen in der ersten Nacht bei Freunden unter, nur etwa 130 Menschen - darunter viele Flüchtlingsfamilien mit Kleinkindern - schliefen auf den Pritschen des Notlagers. Für die nächste Zeit aber hat die Stadt nur rund 150 Wohnungen zur Verfügung. Die übrigen 650 Bewohner werden in jene Sammellager ziehen müssen, in denen vor zwei Jahren Flüchtlinge lebten - oder sie finden selbst eine neue, mutmaßlich teurere Bleibe.

Auch Hans-Günther Seiberling wird das versuchen. "Ich habe keine andere Wahl", sagt er. Auf Dauer können er und sein Partner nicht in einem Raum bei Freunden hocken. Auf dem vorerst letzten Weg zu seiner Wohnung hat Seiberling zufällig Ludger Wilde vom Krisenstab getroffen. Der hat ihm gesagt, es würden "eher Monate als Wochen" vergehen, ehe wieder Leben einziehen könne in den Hannibal.

© SZ vom 23.09.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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