Neuer Guide Michelin:Stern? Schnuppe!

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Illustration: Marc Herold (Foto: N/A)

Der Guide Michelin kürt die besten Restaurants Deutschlands. Bayern etwa hat gleich sieben neue Sterneläden. Aber wie kann man die Küche unter Pandemie-Bedingungen überhaupt bewerten?

Von Marten Rolff

Dem New Yorker Startup Analytical Flavor Systems wird eine große Zukunft vorausgesagt, weil es mit "Gastrograph AI" die angeblich weltgrößte Datenbank für Geschmacksprofile aufgebaut hat. Die Plattform lernt ständig dazu, sie kann die Akzeptanz von neu entwickelten Lebensmitteln bewerten und so menschliche Testesser ersetzen. Wer weiß, vielleicht gibt es ja schon eine Kooperation mit dem Guide Michelin? Aber Spaß beiseite, einen Algorithmus, der auch Gourmetessen beurteilt, wird es so bald nicht geben, dazu ist Geschmack dann doch zu komplex. Nützlich aber wäre so eine "schmeckende" KI gerade alle mal, angesichts des Programms, das die Tester des einflussreichsten Restaurantführers der Welt allein für die deutsche Ausgabe zu stemmen hatten.

Deren Ergebnisse wurden am Freitag per Live-Stream bekannt gegeben. Zwölf Inspektoren (so nennt man die Tester offiziell) haben dafür insgesamt 637 Restaurants beurteilt, die Lokale, die es nicht in die Bewertung schafften, gar nicht mitgerechnet - schon in normalen Jahren klingt das ehrgeizig. Doch die vergangenen zwölf Monate waren ja nicht normal, sondern ein einziger Katastrophenzustand, mehrmonatige Restaurantschließungen, Pleiten, ständige Änderungen, Hygiene-Auflagen, To-go-Service und Bürokratie-Wahnsinn inklusive.

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Da stellt sich die Frage, ob und wie man die Küchen unter solchen Bedingungen und in so kurzer Zeit überhaupt bewerten kann.

Man kann durchaus, findet Ralf Flinkenflügel, Chefredakteur des deutschen Michelin, "für zwei Drittel des vergangenen Jahres durften die Restaurants ja öffnen". Dass es "speziell" werden würde, habe sich abgezeichnet, um "startklar" zu sein, hätten die Inspektoren schon im ersten Lockdown Urlaub genommen; zudem arbeite der Michelin immer internationaler, weshalb man beim Testen von Kollegen aus dem Ausland unterstützt worden war, auf der Zielgraden im Herbst aber trotzdem noch einmal ins Schwitzen geraten sei. Am Ende sei das Ergebnis aber höchst erfreulich, vor allem angesichts der Krise, betont der Cheftester: 310 Sterne-Restaurants zeichnet der Michelin in diesem Jahr aus und damit zwei mehr als in der Ausgabe davor. In Deutschland gibt es nun zehn Dreisterne-Restaurants, 41 Zweisterner sowie 259 Lokale mit einfacher Wertung. Dazu kommen 327 Häuser, die der Führer als wertige Preis-Leistungs-Empfehlung listet (Bib Gourmand).

Die Pressemitteilungen zur aktuellen Ausgabe lesen sich wie ein ausformuliertes Antidepressivum

Die Binse, wie sehr Restaurantkritik und Gastronomie einander brauchen, dürfte wohl nie deutlicher zutage getreten sein als in der Pandemie. Schon im Frühjahr 2020 sollen besorgte Köche in der Michelin-Zentrale angerufen und gemahnt haben, wie wichtig es für Außenwirkung und Motivation sei, dass der Gastroführer erscheine. Die Pressemitteilungen zur aktuellen Ausgabe lesen sich wie ein ausformuliertes Antidepressivum. Man sei "beeindruckt vom enormen Engagement und dem konstanten Qualitätsanspruch, der überall in Deutschland zu beobachten ist", heißt es da pünktlich zur Verlängerung des zweiten Lockdowns. Und auch der deutsche Chefredakteur klingt im Interview ein bisschen wie ein jovialer Pfleger, der einem bettlägerigen Patienten mit einem freundlichen Klaps aufhilft, das Schwindelgefühl werde schon verschwinden, wenn sich der Patient nur ordentlich die Beine vertrete.

Überrascht und aufrichtig erfreut sei man im Sommer von der enormen Kreativität der Köche gewesen, sagt Ralf Flinkenflügel. Die Widrigkeiten hätten die Urteile nicht beeinflusst, "Dinge wie verkürzte Öffnungszeiten, verkleinerte Speisekarten - all das haben wir natürlich akzeptiert". Auch habe man bei negativer Kritik ja nun "nicht hingelangt". Bei 26 Restaurants wurden Sterne gestrichen, in den meisten Fällen waren Schließungen oder Konzeptänderungen der Grund, Abwertungen habe es nur etwa eine Handvoll gegeben, erklärt Flinkenflügel. Manche davon allerdings hatten es in sich.

So wird das bekannte Trierer Zweisterne-Restaurant "Becker's" künftig nur noch mit einem Stern geführt. Mehr Aufmerksamkeit erregen dürfte jedoch die Streichung eines Sterns für die Küche im Saarbrücker "Gästehaus Klaus Erfort", das seit 2008 mit drei Sternen bedacht worden war, bislang zu den höchstbewerteten Restaurants überhaupt zählte und eine der großen Talentschmieden des Landes ist. Natürlich sind solche Abwertungen keine Ad hoc-Entscheidungen, sondern folgen - zumindest offiziell - auf eine längere Entwicklung. In der Regel gibt es Warnhinweise an den Koch. Mancher wird es aber auch als Stilfrage empfinden, ob es stimmig ist, wenn Gastroführer als Retter der Branche auftreten und dann derartige rote Karten ausgerechnet in einem solchen Krisenjahr ziehen.

Wie weit reicht der Blick des seit Pandemiebeginns noch eiligeren Profis?

Wir sind alle Profis, es zählt nur, was auf dem Teller liegt - so lautet das Mantra des Michelin, das selten so schief klang wie jetzt. Denn wie weit reicht der Blick des seit Pandemiebeginns noch eiligeren Profitesters? In einer Lage, die für alle neu ist. Kann er auch den Unterschied beurteilen zwischen der Leistung eines angestellten Chefkochs in Kurzarbeit und der eines Selbständigen, der um Personal und Existenz bangt? Weiß er das Timing des Tests angesichts der enormen Stimmungsschwankungen des vergangenen Jahres gerecht einzubeziehen? "Nach dem ersten Lockdown war ich motiviert bis unter die Hutschnur", erzählt ein Dreisterne-Koch, "nun habe ich aufgehört, neue Gerichte zu entwickeln, ich weiß ja gar nicht, womit ich planen soll, schon mit Spargel oder doch erst mit Kirschen?"

Als globale, aus Paris gesteuerte Marke reagiert ein Gastroführer wie der Michelin auf eine solche Krise naturgemäß unbeweglich. Das wirkt besonders befremdlich, weil die Restaurantkritik selbst vom Gegenstand ihrer Bewertungen, von den Köchen, erwartet, sich ständig neu zu erfinden. Weil sich Lage und Leistung selbst brillanter Küchenchefs in solchen Großsystemen manchmal kaum angemessen abbilden lassen. Sollte Corona - wie oft behauptet - tatsächlich einen Paradigmenwechsel in der Gastronomie einleiten, dann scheint die klassische Restaurantkritik die letzte zu sein, die es erfährt.

Die Hilflosigkeit, die dort herrscht, wo Geschäftsmodelle durchgezogen werden müssen, lässt sich jedenfalls gerade besonders gut ablesen. So musste zum Beispiel das Restaurant des bekannten Spitzenkochs Tohru Nakamura im Sommer schließen, worauf der Münchner mit dem Pop-up "Salon Rouge" weitermachte, das nun seine feste Küche wird. Im November wertete ihn der Gault & Millau gegenüber seiner vorherigen Ausgabe leicht ab, wenige Woche später bedachte ihn der Feinschmecker-Führer mit Höchstnote, und wieder Wochen später taucht Nakamura im neuen Michelin gar nicht mehr auf, weil der Öffnungstermin seines Lokals nicht feststeht. Klar ist in der Haute Cuisine gerade nur, dass gar nichts klar ist.

Das kulinarisch lange unauffällige Dortmund entwickelt sich zum Gourmet-Hotspot

"Lassen Sie uns doch noch einmal über das Positive reden", hatte der Chefredakteur des Michelin am Ende des einstündigen Interviews gebeten. Aber gern: Die "Schwarzwaldstube" in Baiersbronn, wegen eines Brandes zuletzt aus der Wertung genommen, hat ihre drei Sterne nach Wiedereröffnung wieder, was allgemein erwartet worden war. Dazu hat Deutschland drei neue Zweisterne-Restaurants, das in Rekordzeit bekannt gewordene "Ösch Noir" in Donaueschingen und das "Goldberg" in Fellbach (beide Baden-Württemberg). Zudem das "Esplanade" in Saarbrücken, wo Klaus Erforts früherer Souschef Silio Del Fabro mit französisch-mediterraner Hochküche viel Aufmerksamkeit erregt. Das kulinarisch lange unauffällige Dortmund entwickelt sich mit gleich drei neuen Sternerestaurants fast schon zum Gourmet-Hotspot. Und Bayern erfährt mit sieben neuen Sternerestaurants, zwei davon in Regensburg ("Roter Hahn" und die Sushi-Bar "Aska"), erneut einen ordentlichen Küchen-Schub.

Nicht zuletzt stellte der Michelin am Freitag seine neue App vor, über die sich - Geschäftsmodell - künftig 15000 Restaurants und 6000 Hotels buchen lassen. Und 35 deutsche Restaurants tragen nun den "grünen Stern", den der Gastroführer seit vergangenem Jahr für besonders nachhaltiges Wirtschaften vergibt. Außerdem hat der Michelin 120 Jahre nach seiner Gründung das Thema Restaurant-Service für sich entdeckt und vergab erstmals einen entsprechenden Award.

Der Michelin ruft angesichts der Krise übrigens dazu auf, all diese Restaurants nach Ende des Lockdowns zu besuchen. Man sollte sich, so ist zu ergänzen, dort dann mehr Zeit gönnen als die Inspektoren. Erfüllt sich die Hoffnung mancher Köche, dass die Lage sich ab Ende Mai langsam normalisiert, dann bleibt den Testessern für ihr nächstes Urteil noch ein Monat weniger als für die aktuelle Ausgabe. Bleibt zu hoffen, dass sie beim Testen das Kauen nicht vergessen. Die Unterschiede zur schmeckenden KI jedenfalls scheinen immer geringer zu werden.

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