Cholera in Haiti:Schatten auf der Sonnenstadt

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"Das ist kein einfacher Notstand mehr." Die Zahl der Cholera-Toten in Haiti ist dramatisch gestiegen. Mehr als 900 Menschen starben. Wie sich ein neuer und unsichtbarer Feind in dem vom Erdbeben verwüsteten Haiti ausbreiten konnte.

Peter Burghardt

Cité Soleil, Sonnenstadt. Ein schöner und zynischer Name für eine der hässlichsten, ärmsten und gefährlichsten Gegenden der Welt. Im größten Slum von Port-au-Prince und der gesamten Karibik bündeln sich die Probleme von Haiti, dem am meisten gebeutelten Land des Westens. In der ehemaligen Arbeitersiedlung am Meer hausen ungefähr 300.000 Menschen, die meisten von ihnen in Blechbuden und ohne Job. Hier verschanzten sich bewaffnete Anhänger des ehemaligen Präsidenten Jean-Bertrand Aristide und lieferten sich kriegsähnliche Gefechte mit den UN-Blauhelmen der UN-Mission Minustah. Wirbelstürme fegten über die windigen Dächer, und das Beben vom 12. Januar erschlug in dem Elendsviertel nur deshalb vergleichsweise wenige seiner geschätzt 250.000 Opfer, weil der Boden am Meer schlammig ist und nur ein Bruchteil der Häuser aus Beton. Jetzt hat sich auch hier ein neuer, unsichtbarer, winziger Feind eingeschlichen: die Cholera.

In den Krankenhäusern von Haitis Hauptstadt Port-au-Prince werden seit Tagen Hunderte Menschen behandelt, die sich mit der Cholera infiziert haben. Wie diese Frau sind sie durch den Mangel an Flüssigkeit ausgezehrt und geschwächt. Ohne ärztliche Hilfe droht ihnen der Tod. (Foto: AP)

Erst kamen die Gerüchte, dann die Bakterien. Kürzlich wurden die ersten Fälle in der halb zerstörten Hauptstadt gemeldet und bald die ersten Toten, drei Wochen nach Ausbruch der Epidemie im Norden von Port-au-Prince. Bilder aus Cité Soleil erinnern an mittelalterliche Plagen, die Sonnenstadt ist eine Schattenstadt. Es gibt trotz internationaler Helfer zu wenig Krankenhäuser, Latrinen, Waschmöglichkeiten und Trinkwasser. Und es fehlt das Wissen. Clercilia Regis starb im Alter von zwei Jahren, den Körper von Durchfall und Erbrechen ausgezehrt, ihr arbeitsloser Vater trug seine Tochter zu spät zum Hospital. "Wenn die hygienischen Bedingungen stimmen würden, dann könnten wir vielleicht behaupten, dass wir die Lage im Griff haben", sagte Juliet Olivier von der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen der Nachrichtenagentur AP. "Die Krankheit ist leicht zu behandeln, aber die Patienten brauchen zu lange, bis sie zum Arzt gehen."

So hat die Cholera nun die sensibelsten Stellen der Republik erreicht, und sie macht in schauriger Geschwindigkeit die Runde. 14.600 Haitianer sind inzwischen infiziert, 917 gestorben. Allein seit vergangenem Freitag stieg die Zahl der Todesopfer um mehr als 120 Menschen. Es gibt wenig Hoffnung auf ein Abflauen der Epidemie. Nur wer rechtzeitig eine Behandlungsstation erreicht, an den Tropf gelegt wird und Antibiotika bekommt, überlebt in der Regel. Die Sterblichkeitsrate unter den Erkrankten wird derzeit mit sieben Prozent angegeben, doch nimmt die Dimension täglich zu. Laut einer UN-Studie könnten es 200.000 Kranke werden. Die jüngste Plage begann im Oktober in der Provinz Artibonite und breitet sich seitdem aus, die Überflutungen nach dem Hurrikan Tomas machen alles noch schlimmer. Im übervölkerten Port-au-Prince mit seinen verstopften Straßen wird es erst recht bedrohlich, denn zwischen den Trümmerfeldern liegen außer den Kloaken von Cité Soleil und anderen Problemzonen auch die gewaltigen Flüchtlingslager.

Mehr als 1,3 Millionen Obdachlose wohnen seit den Erdstößen vom Jahresbeginn in Zeltlagern in und um die demolierte Metropole, versorgt von Hilfsorganisationen, UN und dem, was sich Regierung nennt. Unter solchen Bedingungen könnten sich die Ansteckungen vervielfachen und auch den Nachbarn Dominikanische Republik erreichen. Offene Abwasserkanäle sind ideale Brutstätten. Außerdem ahnen viele Betroffene nicht, welches Unheil ihre schon früher häufige Diarrhöe diesmal anrichten kann. Die Behörden versuchen, mit Durchsagen und Zetteln aufzuklären. Hände waschen! Wasser abkochen! Bei Symptomen Mediziner aufsuchen! Seifen werden geschickt, Reinigungstabletten, Kochsalzlösungen, Medikamente, Liegen. Die Hospitäler sind bald ähnlich überfordert wie nach den verheerenden Erschütterungen vor zehn Monaten, obwohl es viel mehr Katastrophenmanager und Spitäler gibt als vorher. Als Krankenwagen dienen oft die bunten Sammeltaxis namens Tap-Tap mit ihren Sprüchen von Gott, Geduld und einem besseren Leben.

"Das ist kein einfacher Notstand mehr"

Die UN hat die Gönnerländer gebeten, 164 Millionen Dollar zu spenden. Wobei sich Kritiker fragen, was aus den Milliardenversprechen der Geberkonferenzen, Spendengalas und all den Prominentensammlungen geworden ist. Damals wurde Haiti für den Wiederaufbau ein Geldregen versprochen. Humanitär sei die Lage "extrem ernst", warnt Nicholas Reader vom UN-Hilfskomitee. "Das ist kein einfacher Notstand mehr", sagt Gabriel Thimote, Direktor des haitianischen Gesundheitsamtes. "Das ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit."

Für UN und Regierung wird es auch deshalb heikel, weil sie manche für mitschuldig halten. Noch ist unklar, wie und woher diese Seuche erstmals seit beinahe einem Jahrhundert eingeschleppt wurde. Zu den Verdächtigen zählt der Fluss Artibonite - und gerüchteweise auch ein nepalesisches Kontingent der Friedenstruppen, da Forscher einen asiatischen Stamm des Erregers vermuten. "Ministuh ist Cholera", riefen Demonstranten in Cité Soleil, berichtet die Zeitung Le Nouvelliste. Dies sei eine Zeitbombe, fürchtet das Blatt. Die Freunde des ins südafrikanische Exil verfrachteten Aristide betrachten die UN-Blauhelme ohnehin als Feinde. Dem Präsidenten René Préval wiederum werfen Kritiker vor, er habe die Kontrolle verloren und zu wenig Vorsorge getroffen. Das schadet auch seinem Kandidaten Jude Célestin, der sich am 28.November um das Amt des Präsidenten bewirbt, Préval selbst darf nicht mehr antreten. Favoritin ist neuerdings die oppositionelle Bewerberin Mirlande Manigat. Der Universitätsprofessorin werden laut Umfragen 33 Prozent der Stimmen zugeschrieben, dem Unternehmer Célestin nur 21 Prozent. Allerdings sind die Stichproben erstens unzuverlässig, und zweitens ist unklar, wie diese Wahlen in den Zeiten von Cholera und Verzweiflung stattfinden sollen.

© SZ vom 15.11.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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