Chef der Essener Tafel:"Ich würde mich wieder so entscheiden"

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Das Warten hat einen Anfang: Nach einer dreimonatigen Pause dürfen sich Menschen mit ausländischem Pass wieder bei der Essener Tafel anstellen. Der Andrang am ersten Tag war groß. (Foto: Roland Weihrauch/dpa)
  • Die Essener Tafel nimmt nach einem Aufnahmestopp wieder neue Ausländer auf.
  • Der Chef des Vereins ist sich sicher, richtig gehandelt zu haben.
  • Sollten wieder zu viele Bedürftige kommen, hat er sich mit der Stadt auf einen Kompromiss geeinigt.

Von Christian Wernicke, Essen

Alles ist wieder gut. Jedenfalls für Marija Sabados: "Juhu, es hat geklappt", jubelt die Serbin, als gegen halb elf Uhr die Glastür der Essener Tafel im alten Wasserturm an der Steeler Straße hinter ihr ins Schloss fällt. "Ich freu' mich, dass die mich angenommen haben", sagt die Frau mit den roten Haaren, während sie ihr Einkaufswägelchen die vier Stufen hinab zum Bürgersteig hebt, "das hilft mir, über die Runden zu kommen." Sabados, eine 65-jährige Rentnerin, hat die wochenlange Debatte um den Aufnahmestopp für Ausländer "ganz genau verfolgt - es stand ja alles in der Zeitung". Sie wusste: "Heute durfte ich wieder kommen."

Denn seit Mittwoch nimmt der Essener Hilfsverein wieder Neukunden mit ausländischem Pass auf. Kurz nach acht Uhr stand Marija Sabados vor der Tür, die Warteschlange hinter ihr reichte 30 Meter weit bis zur Straßenecke. "Erleichtert" ist sie, als um kurz vor neun Jörg Sartor aufschließt, der inzwischen bundesweit bekannte Tafel-Chef von Essen. Der 61-Jährige blickt auf die zwei Dutzend Journalisten, die an diesem Tag ebenfalls vor der Tafel warten. "Wegen euch sind heute bestimmt viele Menschen nicht gekommen", blafft er.

Sartor nervt der Medienrummel. Aber er bedient ihn auch. Zweifel plagen ihn nicht: "Wenn wir das gleiche Problem hätten wie vor einigen Wochen, ich würde mich wieder so entscheiden." Er hat sein Ziel ja erreicht, mehr als jeder zweite Tafelkunde (56 Prozent) ist wieder Deutscher. Zu Jahresbeginn, vor dem Aufnahmestopp, waren drei von vier Bedürftigen, die im Wasserturm Brot, Milch oder Gemüse ausgeteilt bekamen, noch Ausländer. Sartor und sein Vorstand beklagten damals, "dass sich die deutsche Oma nicht mehr wohl fühlt" unter den vielen Fremden. Heute stopft er die Hand in die Hosentasche, wenn er sich an die Protestwelle nach seiner Entscheidung im Februar erinnert: "Wie da einige Politiker auf uns draufgehauen haben, blind und mit beiden Armen ...", brummt er. Sartor lehnt am Türrahmen, legt ein Siegerlächeln auf: "Jetzt sagen die alle, man müsse mehr auf die Ehrenamtlichen hören. Was Besseres konnte dem Land doch nicht passieren!"

"Ich kann verstehen, dass die irgendwie reagieren mussten. Aber in Ordnung war das nicht"

Das sieht Marija Sabados anders. Die Serbin ist zwar dankbar, dass sie nach langer Pause wieder eine weiße Bezugskarte ergattert hat. Ihr schwarzer Hackenporsche weist Sabados als erfahrene Tafel-Kundin aus, zwei Stunden später wird sie auf der Rückseite des Wasserturms wieder anstehen für Salat, Joghurt oder Äpfel. "Ich kann zwar verstehen, dass die irgendwie reagieren mussten", sagt die ehemalige Kellnerin einer Steakhouse-Kette, "aber in Ordnung war das nicht." Sabados kam als Jugoslawin vor 50 Jahren nach Deutschland, stets hat sie ihre Steuern gezahlt. Vor mehr als 20 Jahren wollte sie sich einbürgern lassen. Aber dann hätten die Beamten im Konsulat ihres Heimatlandes 5000 Mark Gebühren verlangt: "Die hatte ich nicht übrig." Also blieb sie, auf dem Papier jedenfalls, eine Fremde. Sie bekommt eine kleine Rente, dazu 57 Euro Wohngeld. Aber bei der Tafel, einem privaten Verein, hat sie keinen Anspruch auf Hilfe.

Trotz des vorübergehenden Ausschlusses verlassen am Mittwoch viele Menschen den Wasserturm mit zufriedenen Gesichtern. Der ergraute Iraner zum Beispiel, der zuletzt ohne Kundenausweis nach Hause trotten musste, freut sich: "Alles gut." Ein jesidisches Ehepaar hält wenig später verschüchtert und doch stolz seine neue Plastikkarte vor die Kameras. Nur Regina Singui, eine blondierte Frau aus Angola, ist sauer. Schon der Ausländerstopp hat die 34-jährige Mutter empört, dreimal habe man sie weggeschickt. Diesmal habe ihr ein Tafelhelfer bedeutet, der Bescheid vom Jobcenter, Ausstellungsdatum 2. März 2018, sei veraltet: "Die machen immer was", schimpft Singui und stapft davon.

Christa Gille, 62 Jahre, Rentnerin, gehört zu der Kategorie "deutsche Oma", die Tafel-Chef Sartor mit seinem Ausländerstopp schützen wollte. Die Alt-Kundin hat 15 Jahre Tafel-Erfahrung, an diesem Tag begleitet sie einen deutschen Bekannten bei dessen ersten Gang zum Wasserturm. "Aber das hätte ich genauso auch für einen Ausländer gemacht", beteuert sie. Früher führte Gille eine Kneipe, "bei mir gab's keinen Unterschied zwischen Deutschen und Ausländern". Hunger hätten alle, "da müssen wir was abgeben". Sie hat sehr oft angestanden für das kostenlose Zubrot, von dem gesparten Geld konnte sie sich Schuhe kaufen, "oder das Eis für meine Enkel".

Sartor hofft, dass es nun wieder ruhiger wird um seinen Verein. Für den Fall, dass doch wieder zu viele Bedürftige zur Tafel strömen sollten, hat er sich mit Ausländerverbänden und der Stadt Essen auf einen Kompromiss geeinigt. Dann wird nicht wieder nach Pass sortiert, dann sollen Alleinerziehende, Menschen mit Behinderung und Alleinstehende über 50 zuerst dran kommen (unter denen sich überproportional viele deutsche Kunden finden). Also alles geregelt? Nicht ganz. "Nichts ist in Stein gemeißelt", sagt Sartor. "Was machen wir, wenn plötzlich in den Niederlanden eine Revolution ausbricht und zwei Millionen Holländer vor der Tür stehen?" Die Antwort bleibt er schuldig. Er weiß, wer im Wasserturm das letzte Wort hat.

© SZ vom 12.04.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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