Gerichtsurteil:Frei wie die Robbe

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Tatort Ostsee. (Foto: Gregor Fischer/dpa)

Darf sich der Mensch nachts am Strand von Travemünde erleichtern? Oder muss er 60 Euro Bußgeld zahlen? Ein Richter hat dazu nun ein lyrisches Urteil verfasst.

Von Jana Stegemann, Hamburg

Darf man als Mensch nachts ins Meer pinkeln? Ja, hat das Amtsgericht Lübeck entschieden und danach ein schriftliches Urteil verfasst, das in Teilen auch ein Gedicht sein könnte. Den Freispruch des Wildpinklers begründet der zuständige Richter Felix Spangenberg mit Paragrafen - und mit Poesie: "Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee."

Was war passiert? Während der Travemünder Woche im Juli 2022 hatten gleich drei Ordnungsamtsmitarbeiter der Stadt Lübeck einen Mann erwischt, als er sich nachts am Strand in die Ostsee erleichterte. Mit Taschenlampen sollen sie die Szene ausgeleuchtet haben. Wissen sollte man dazu, dass die Travemünder Woche, ebenso wie die Kieler Woche, eine Art Mini-Wiesn des Nordens ist. Auf der Segelveranstaltung wird recht feuchtfröhlich gefeiert.

Die Behördenmitarbeiter notierten als Tatzeit 0.36 Uhr, der Mann habe "im Schutze der Dunkelheit am Spülsaum des Meeres und mit dem Rücken zum Strand" ins Wasser uriniert. 60 Euro Bußgeld sollte er zahlen "wegen Belästigung der Allgemeinheit durch eine grob ungehörige Handlung". Juristisch wäre das eine Ordnungswidrigkeit. Der Mann weigerte sich zu zahlen, und da er weder Reh noch Hase oder Robbe und damit nicht per se strafbefreit ist, kam es im vergangenen Juni zu einer etwa einstündigen Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Lübeck.

Dort traf der Beschuldigte auf Amtsrichter Felix Spangenberg. Den muss man sich offenbar nicht nur als sprachgewaltigen, sondern auch als lebensnahen Juristen vorstellen. Er zeigte Verständnis für "das natürliche Bedürfnis", der Mann sei in der Nacht "allenfalls schemenhaft zu erkennen gewesen". Dadurch könne sich niemand belästigt gefühlt haben. Unklar sei zudem, ob ihn außer den drei Ordnungsamtsmitarbeitern noch andere gesehen hätten. Und selbst wenn, so schreibt Spangenberg in seinem Urteil: Auch auf öffentlichen Herrentoiletten finde "an durchgehenden Pissoirs, an Rinnen oder sonstigen offenen Abtritten das gesellige Wasserlassen statt".

Bei naturnahen Beschäftigungen sei das Wasserlassen gesellschaftlich akzeptiert

Selbst das Schamgefühl von Frauen sei durch das Strandpinkeln nicht verletzt worden, findet der Richter, ein Wasserlassen in der Natur sei "bei Wanderungen, bei Arbeiten in Feld und Flur, bei Jägern und Pilzesammlern, bei Radsportlern und Radtourlern, bei Badenden an Seen und Flüssen und bei sonstigen naturnahen Beschäftigungen gesellschaftlich akzeptiert". Weil es am Strand keine andere Möglichkeit gebe, als sich umzudrehen, könne sich auch das nicht zum Nachteil des Mannes auswirken. Denn, so schreibt Spangenberg an dieser Stelle mehr pragmatisch als poetisch: "So ist es halt an der Küste."

Auch Sorgen um die Wasserqualität müsse sich niemand machen, rechnet der Amtsrichter am Ende vor; die Ostsee enthalte 21 631 Kubikkilometer Brackwasser: "Der Verdünnungsgrad wäre selbst im Wiederholungs- oder Nachahmungsfall so hoch, dass eine belästigende Verschmutzung oder Geruchsbeeinträchtigung ausgeschlossen ist."

Nachdem das Urteil schon vor einigen Tagen auf der Gerichts-Webseite veröffentlicht worden war, schlug es nun Wellen. Die Bild-Zeitung titelte unnachahmlich klar: "Urteil mit Strahlkraft". Was stimmt, rechtskräftig ist die Entscheidung schon.

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