Air-France-Flug 447:Die Angst fliegt mit

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Es ist immer noch unklar, warum der Airbus A330 im Juni über dem Atlantik abstürzte. Experten warnen aber, die gängigen Geschwindigkeitsmesser seien zu gefährlich.

Jens Flottau

Die entscheidende Passage findet sich erst auf Seite 73 des Untersuchungsberichtes zum Flug Air France 447. Dort schreibt die französische Behörde für Flugunfalluntersuchungen BEA einen bemerkenswerten Satz zu den Pitot-Sonden: "Die Zulassungsbestimmungen sind nicht repräsentativ für die Bedingungen, wie sie tatsächlich in großer Höhe angetroffen werden, zum Beispiel in Sachen Temperatur."

Schwierige Spurensuche: Helfer bergen ein Wrackteil des A330 aus dem Atlantik, Flugschreiber und Stimmrekorder sind bis heute verschwunden. (Foto: Foto: dpa)

Mit anderen Worten: Die wichtigen Messgeräte, die Flughöhe und Tempo eines Flugzeuges ermitteln, sind unter Extrembedingungen nicht zuverlässig. Deswegen empfiehlt die BEA auch, die Vorschriften zu verschärfen.

Trotzdem legt sich die BEA nicht fest, dass die Pitot-Sonden Ursache für den Absturz des Airbus A330 am 1. Juni 2009 waren, bei dem alle 228 Menschen an Bord ums Leben gekommen, unter ihnen auch 28 Deutsche.

Überforderte Piloten

Der genaue Ablauf kann bislang auch deshalb nicht rekonstruiert werden, weil Flugdatenschreiber und Stimmenrekorder im Atlantik verschollen sind. Viele Indizien sprechen aber dafür, dass die am Rumpf angebrachten Messgeräte vereist waren und falsche Geschwindigkeitsdaten an die Flugkontrollcomputer abgaben. Daraufhin waren wichtige Flugsteuerungssysteme ausgefallen, wie 24 von der Maschine automatisch an die Air France-Zentrale übermittelte Fehlermeldungen zeigen.

Die Piloten waren, so spekulieren Branchenexperten und auch Angehörige der Opfer, in dieser Extremsituation überfordert und verloren die Kontrolle über das Flugzeug. Die Maschine war nordöstlich der brasilianischen Küste ins Meer gestürzt, nachdem sie eine Schlechtwetterzone durchflogen hatte.

Die BEA-Untersuchung zu dem Absturz listet zahlreiche weitere Vorfälle auf, bei denen die nach zu laschen Regeln zugelassenen Sonden nicht richtig funktionierten. Dennoch duldet die BEA und mit ihr die europäische Flugsicherheitsbehörde EASA, dass Pitot-Sonden weiterhin ohne Einschränkung genutzt werden dürfen, obwohl sie extremen Wetterbedingungen nicht immer trotzen.

"Es muss sofort etwas geschehen", fordert Gérard Arnoux, Chef der französischen Pilotengewerkschaft Syndicat des Pilots d'Air France (SPAF) und selbst Airbus-Kapitän. "Immer noch fliegen heute Flugzeuge außerhalb der Zulassungsgrenzen." Seiner Ansicht nach hätte die BEA empfehlen müssen, dass solange kein Airbus A330 oder A340 in großer Höhe und bei Extremkälte durch Wolken fliegen darf, wie nicht nachgewiesen ist, dass die Geschwindigkeitsmesser dort auch funktionieren.

Bei den Zulassungstests werden die Sonden nur für Temperaturen bis minus 40 Grad Celsius getestet. Bei dutzenden bekannten ernsten Zwischenfällen, die sich seit 1995 ereignet haben, war es aber minus 45 bis minus 65 Grad kalt. Zudem, so gibt selbst die Behörde zu, ist die Größe der Eiskristalle, die in großen Höhen vorkommen können, ebenso wenig erforscht wie ihre Wirkung auf Geräte.´

"Kollektives Versagen"

Der Airbus A330 ist einer der erfolgreichsten Langstreckenfieger. 1016 Maschinen sind weltweit im Einsatz, das Schwestermodell A340 mit eingerechnet, auch Lufthansa setzt die Modelle ein. Restriktionen wie jene, Schlechtwettergebiete in großer Höhe zu umfliegen, hätten womöglich gravierende Auswirkungen auf Kosten und Flugpläne. Airbus argumentiert, selbst der Ausfall der Pitot-Sonden sollte nicht zum Absturz führen, denn auch dann könnten Piloten nach festgelegten Verfahren sicher weiterfliegen.

Im Rückblick erscheinen die Ereignisse bis zum Absturz des Fluges AF 447 wie eine Geschichte der verpassten Gelegenheiten. "Der Unfall hätte verhindert werden können", glaubt Arnoux. Der unabhängige Luftfahrtexperte Heinrich Großbongardt spricht vom "kollektiven Versagen aller Beteiligten im Luftverkehrssystem."

Bereits 1995 stellte Airbus die ersten Fehler bei den damaligen Sonden des Herstellers Rosemount fest. "In einer solch eisigen und turbulenten Umgebung können die Daten (…) stark beeinträchtigt sein. (…) Es scheint, als könnten die Bedingungen die wetterspezifischen Zulassungskriterien für die Pitot-Sonden übersteigen", schrieb der Hersteller im Dezember 2005 an die Airbus-Kunden. Airbus zog Konsequenzen und ließ die alten Geräte durch neue Sonden des Herstellers Goodrich ersetzen.

Aktuelle Goodrich-Geräte gelten zwar als deutlich zuverlässiger als die Sonden des Herstellers Thales, die Air France noch zum Zeitpunkt des Absturzes einsetzte. Doch auch sie wurden wie alle darauf folgenden Messgeräte nach den ungenügenden Kriterien zugelassen. Der Flugzeughersteller hat selbst mittlerweile deutlich strengere Richtlinien erlassen als die europäischen Luftfahrtbehörden.

Vor zehn Jahren wurde auch die deutsche Bundesstelle für Flugunfalluntersuchung (BFU) auf die Problematik aufmerksam. Ein Airbus A320 hatte im Anflug auf Frankfurt bei starker Vereisung alle Geschwindigkeitsdaten verloren, auch der Autopilot und die automatische Schubregelung schalteten sich ab.

Die BFU forderte damals, die Sonden sollten so ausgelegt sein, "dass sie unbeschränkten Flugbetrieb auch bei starkem Regen und Vereisung erlauben." Doch fast zehn Jahre später, befand die nun zuständige Flugsicherheitsbehörde EASA: Die bisherigen Standards sind ausreichend.

Beunruhigende Turbulenzen

Die Pitot-Sonden des französischen Herstellers Thales, die auch auf dem Airbus A330 der Air France installiert waren, gerieten erstmals im Juli 2002 ins Visier. Damals schrieb Airbus an die Airlines, mehrere Betreiber hätten über Diskrepanzen bei den Geschwindigkeitsmessern berichtet. Doch erst nach dem Absturz der Air France-A330 empfahl Airbus, die Geräte auszutauschen. Dabei hatte selbst Thales schon vor vier Jahren gewarnt, der Verlust von Geschwindigkeitsdaten könne "Flugzeugabstürze verursachen, vor allem, wenn die Sonden vereist sind."

In Branchenkreisen geht die Diskussion nun über die Pitot-Sonden hinaus. Im Oktober 2008 spielten die Bordcomputer eines A330 der australischen Qantas verrückt. Das Flugzeug machte so schnelle Auf- und Abbewegungen, dass sich dabei mehrere Passagiere Knochenbrüche zuzogen. Darauf entwickelte Airbus ein Software-Update für den Flugkontrollcomputer.

Zwar bestreitet Airbus einen Zusammenhang zwischen den Unfällen von Air France und Qantas, schließlich würden beide teilweise von unterschiedlichen Computer-Herstellern beliefert. Doch Airbus bestätigt in einer schriftlichen Stellungnahme an die SZ: "Der Sinn der Modifikation besteht darin, den Flugkontrollcomputer robuster gegen ungewöhnliche (Daten-) Parameter zu machen."

Im Falle von Air France 447 hat womöglich Vereisung zu falschen Daten geführt, beim Qantas-Flug 72 womöglich ein Computerfehler. In beiden Fällen konnten die anderen Rechner mit den wirren Informationen nicht umgehen. SPAF-Chef Arnoux sagt: "Dass die Bordcomputer auf Störungen extrem sensibel reagieren, ist ein großes Problem. Aber nur Airbus weiß, was in den Computern drinsteckt."

© SZ vom 02.01.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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