Zum ersten Mal auf dem Oktoberfest:Feingeist im Bierdunst

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Jahrelang hat unser Autor einen großen Bogen um die Wiesn gemacht, jetzt hat er sich zum ersten Mal in ein Bierzelt gewagt - und die Hölle erlebt. Trotzdem würde er es wieder tun, denn er hat ein paar erstaunliche Erfahrungen gesammelt.

Johan Schloemann

Ich stamme aus dem Ruhrgebiet. Das heißt: Die Einverleibung größerer Mengen Biers ist mir aus meiner Heimat durchaus vertraut. Aber mit den Jahren ist mir zunehmend schleierhaft geworden, wie ich als Jüngling immer wieder diese Unmengen an Flüssigkeit freiwillig in mich hineinschütten konnte. Vielleicht ist der Schleier derselbe, den ich überhaupt über meine nordgermanische Barbarenherkunft zu legen versuche, eine gewisse lebensweltliche Verfeinerung also. Oder es liegt einfach am unaufhaltbaren Alter - die Evolution, habe ich neulich gelesen, hat unsere Menschenkörper eigentlich für nicht mehr als 40 Lebensjahre konstruiert. Also wohl auch nicht für exzessiven Bierkonsum über 40.

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Impressionen.

Seit acht Jahren lebe ich jetzt in München, nach gut zehn Jahren vorher in Berlin. Ich gestehe, dass ich um das Oktoberfest immer einen großen Bogen gemacht habe. Zwar habe ich stets Kenntnisse vorgetäuscht, zum Zweck meiner besseren Integration - so wie man hier ja auch möglichst souverän verschweigen sollte, dass man keinen BMW fährt, nicht Ski fahren geht, nicht ins Schumann's und auch nicht in die Allianz-Arena.

Das Spiel mit den angeblichen Wiesn-Erfahrungen lässt sich wirklich wunderbar spielen, weil man ja auf immer mehr Kanälen mit Wiesn-Reports, Dirndl-Tests und Promi-Galerien versorgt wird. Und wenn man gefragt wird, ob man nicht mitkommen möchte, dann kann man in meinem Beruf immer andere Beschäftigungen vorschieben, deren Dringlichkeit, das zeichnet diesen Beruf aus, selten zu durchschauen, aber immer schwer abweisbar ist.

Der Beruf lautet Feuilletonist. Deshalb haben mich die Kollegen vom München-Teil eingeladen, ich möge doch heuer (das ist ein schönes Wort, mit dem ich gerne meine fortschreitende Integration demonstriere) mal etwas über das Oktoberfest schreiben. Mein Bericht solle eine "Überhöhung" leisten, gar ein "Essay" werden, sagten die Kollegen. Nicht wissend, dass dem erst einmal mein peinliches Outing als blutiger Anfänger würde vorausgehen müssen.

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Ich muss sehr verloren ausgesehen haben, als mich eine der Bedienungen voll mütterlichen Mitleids aus einer wütenden Menge herauspickte, welche draußen vor dem vollen Augustiner-Zelt nach Einlass begehrte. So erbost die Herumquetschenden über diesen Akt gnädiger Willkür waren, so dankbar war ich, dass mich meine Schutzmatrone sicher zu meinem Platz brachte. Dort angekommen, verstand ich sofort, dass das mit der Überhöhung schwierig werden würde. Schon die grundierende Ochsensemmel hatte mich eher nach unten als nach oben gezogen.

Aber ich will es doch wenigstens versuchen (Essay!), sagte ich mir, mir inmitten des Treibens über den Sinn des Ganzen ein paar Gedanken zu machen. Wohlan: Während auf meiner rechten Seite eine überaus stämmige Besucherin, die wegen der Landwirtschaftsausstellung hier ist, mit mir schunkeln will, während auf meiner linken Seite eine überaus schmale Krankenschwester mir ihr Herz ausschütten will in einer Klage über die Herzlosigkeit unserer Gesellschaft den Schwachen und Alten gegenüber, und während wiederum die Männer der beiden, die auf der Bank gegenüber sitzen, teils die prekäre Lage auf meiner Seite des Tisches im Blick, teils aber nach anderen Frauen Ausschau halten, und während wir alle herrlich betrunken werden und trotz sichtlicher Ungemütlichkeit dem Gegenteil ein Prosit singen, während dieses ganz normalen Ausnahmezustandes also krame ich im Kopf nach Theorien, die so etwas wie das Oktoberfest erklären könnten.

Wegen ihrer besonderen Beliebtheit in der Gegenwart fallen mir zuerst die Versuche ein, alle kulturellen Phänomene als Ersatzhandlungen für religiöse Praktiken zu verstehen. Der dionysische Rausch wird in der Gemeinschaft erfahren, als eine ritualisierte Verehrung der Lebenskräfte, die durch den Alkohol intensiviert und zugleich der Gottheit geopfert werden.

Oktoberfest bei Nacht
:Wenn die Lichter angehen

Abends, sagen manche, ist es auf der Wiesn nicht mehr schön. Zu viele Bierleichen, zu viel Müll. Dabei entwickelt das Oktoberfest seinen ganz besonderen Reiz, wenn es dunkel wird und die vielen bunten Lichter angehen - wie unsere Bilder zeigen.

Ein ganz zufällig bayerischer Anthropologe und Biologe vertritt sogar die These, dass die Erfindung des Bieres vor einigen Jahrtausenden im Vorderen Orient zu kultischen Zwecken überhaupt erst den planmäßigen Getreideanbau und damit die Sesshaftigkeit in Gang gebracht habe, die Sesshaftigkeit, die wir als epochalen Schritt in der Geschichte verstehen, wahlweise als produktive kulturelle Revolution oder, mit Rousseau, als zivilisatorisches Grundübel.

Und genau diese Kultgeschichte der sesshaften Kultur wird in den nomadischen Zelten auf der Theresienwiese reinszeniert. Genau so könnte ich das zwar gerade nicht formulieren, umwölkt von Edelstoff, aber so ungefähr war's wohl; wenn man sich hier umblickt, sieht man gleich: Bier formte diesen gesellschaftlichen Körper. Und das mit den Biermengen habe ich doch noch nicht ganz verlernt.

Karneval und Alltagsnormalität

Zweitens blitzt, während es draußen dunkel und drinnen immer lauter wird, die Theorie des Karnevalistischen auf: Die zeitweise Aufhebung der Alltagsnormalität, die sich im Fest, in Spott, Spiel und Travestie zeigt, hat eigentlich gerade nicht den Zweck der Aufhebung, sondern den der Stabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung. Meine Saufkumpanen, für ein paar Stunden meine allerbesten neuen Freunde, bestätigen mir das: Sie werden zu Hause ihre Verkleidung ablegen und morgen wieder zur Arbeit gehen.

Auch die Fahrgeschäfte haben die karnevalistische Funktion, unsere körperliche Sicherheit und Schwerkraft aufzuheben, damit wir nachher umso beruhigter wieder mit den Füßen auf der Erde stehen. Und am "Hau den Lukas" erleben wir eine schöne Szene ironischer Volkskomik, die man ganz ähnlich deuten kann: Die umstehende Menge bejubelt da am lautesten einen betrunkenen Schwächling, der mit seinen Lukas-Schlägen kaum über den Boden hinauskommt.

Bevor sich alles nur noch dreht, in mir und um mir, versuche ich es noch schnell mit der kulturwissenschaftlichen These von der "erfundenen Tradition" ("Invention of Tradition"): Vermeintlich althergebrachte Sitten werden transformiert und neu geschaffen, damit so die Dynamik der Moderne durch Identitätsstiftung abgefedert und bewältigt werden kann. Zu diesen erfundenen Traditionen gehört das bayerische Königtum selbst, das das Oktoberfest ins Leben gerufen hat, und natürlich die vermeintlich traditionelle Feiertracht.

Dass erfundene Traditionen nicht unlebendiger sein müssen als die alten, erfährt man hier auf das Saftigste. So, mehr Überhöhung kriege ich nicht hin, bevor ich aufs Fahrrad steige und dann von der Polizei angehalten werde. Sie lassen mich laufen, weil ich hinten auf dem Fahrrad einen Kindersitz habe. Ach, schön ist's in München. Mein Besuch im Festzelt war die Hölle. Aber ich würde es doch wieder wagen.

© SZ vom 09.10.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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