Wolfratshausen/Grafing:Wunderbare Wendelsteinstraße

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Der Wolfratshauser Autor Werner Kafka präsentiert sein zweites Buch über Grafing, einen sehr lesenswerten Erzählband

Von Thorsten Rienth, Wolfratshausen/Grafing

Die besten Geschichten liegen auf der Straße. Dort, wo das Sommergewitter den klebrigen Schaum, mit dem die Nachbarschaft ihre DKWs, Borgwarts oder 250er schrubbt, die Gullis runterspült. Wo ein Lesben-Pärchen wohnt, das weder Kuchen backt, noch Socken stopft - sondern sich für alle sichtbar auf der Terrasse mit Nussöl einreibt. Dabei geht die Grafinger Wendelsteinstraße, die Werner Kafka zum Schauplatz seines neuen Buchs gemacht hat, nicht einmal als richtige Straße durch: Sie biegt von der Glonner Straße gen Süden ab - und endet nach hundert Metern jäh an einer Garageneinfahrt. Doch der Erzählband ist eine innige Liebeserklärung an diese Sackgasse, "Wie der Leidl-Mausi in den Bach gefallen ist", lautet ihr Titel. Am Samstag, 8. Dezember, stellt der Autor sie in Grafing vor.

Werner Kafka, Jahrgang 1955, der heute bei Wolfratshausen lebt, arbeitet seit mehr als 30 Jahren als Buchhändler, Autor und Fotograf. Seine Reportagen führten ihn in viele Ecken der Erde, von Sumatra bis Grönland, vom Pazifik bis zum Indischen Ozean. Er ist nicht nur Autor zahlreicher Fachbücher über Fotografie, sondern auch einiger belletristischer Werke. 2016 ist der autobiografisch inspirierte Roman "Öxing - Die nicht ganz fiktive Chronik eines Dorfes" erschienen, eine regionale Variante der amerikanischen Dramedy "Wunderbare Jahre". Der neue Erzählband, gut 130 Seiten stark, kann als ihre Fortsetzung verstanden werden.

Der Hauptdarsteller ist Kafka selbst - er, der kleine Habicht, mit seinem großen Bruder, dem weisen und scharfäugigen Adler. Die Sommer verleben sie im Gesträuch der Wendelsteinstraße, ernähren sich von stibitztem Gartengemüse und schwarzgefischten Fischen, von Johannisbeeren, Birnen und Sauerampfer, von verbrannten Semmeln und Brezen. Zwischendurch dreschen sie Fußbälle in Nachbars Garten. Springen in Baugruben, auf dass sich harter Kies, gebrochenes Gestein und scharfer Gneis in die zarten Kindersohlen bohren. Oder sie treiben sich in Großvaters Forsthaus herum. "Und nachts, wenn die Sterne funkelten oder der Mond hell und silbrig glänzte oder dicke kugelige Regentropfen auf das Blätterdach prasselten, träumten die beiden Kinder - vom Fliegen", schreibt Kafka.

Es ist eine schier grenzenlose Kinderfreiheit, der der Autor in den gut 20 (Kurz)geschichten huldigt. Was er davon tatsächlich selbst erlebt hat, lässt Kafka bewusst offen, ja, er kokettiert geradezu damit. "Es macht mir Freude, wenn der Leser sich nie sicher sein kann, ob jetzt Wahres oder Erfundenes geschildert wird", schreibt er im Vorwort. "Oder ob beides vermengt wieder eine neue Geschichte ergibt, die so nicht passiert ist, aber ebenso hätte passieren können, oder gar müssen." Er schwöre hoch und heilig, dass sämtliche Figuren und Handlungen - Kunstpause - nur fast frei erfunden seien. Sonst hätte er ja aus der Wendelsteinstraße einfach eine Zugspitzstraße gemacht. So mancher Nachbarsjunge oder -Vater wird sich deshalb wohl wiedererkennen.

Doch dieses Buch lebt auch von seiner Einordnung in einen viel größeren Kontext, einen, der über hundert Meter Sackgasse und ein paar Lausbubenstreiche weit hinausgeht: Stellvertretend für viele Orte in Bayern erzählen Kafkas Geschichten von den Bewohnern dieser Straße, die aus den unterschiedlichsten Ecken Europas stammen, von deren Schicksalen und Traditionen, von merkwürdigen Dialekten und Essensgewohnheiten. Es ist ein vielfarbiger Mikrokosmos, der die Kinder dieser Straße vor allem eines erfahren lässt: Jeder Mensch ist gleich, und egal, woher er kommt, welcher Kultur oder Religion er angehört, er ist zuallererst ein Mensch.

Denn die zusammengewürfelten Protagonisten sind alles Menschen mit kleinen und größeren Sorgen, verbunden durch die allgegenwärtigen Existenzängste der späteren Nachkriegsjahre - und auch durch Neid und Eifersüchteleien. "Aber unsere Gemeinschaft war eben auch voller Mut und Lebensfreude, voller Großherzigkeit und Hilfsbereitschaft, und sie erzog die Kinder der Wendelsteinsteinstraße zu überzeugten Europäern." Ihn jedenfalls, schreibt Werner Kafka, habe diese kleine Sackgasse eines ganz besonders gelehrt: "Dass Flüchtlinge, Fremde, Vertriebene oder Ausländer vor allem eines sind: spannend!"

"Wie der Leidl-Mausi in den Bach gefallen ist - Liebeserklärung an eine Sackgasse": Lesung mit Werner Kafka, Samstag, 8. Dezember, um 14 Uhr in der Buchhandlung Braeuer am Grafinger Marktplatz

© SZ vom 07.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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