Bildende Kunst:Was bleibt vom Leben

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Rückblick am Ende: Aus Glasplatten, die vor mehr als hundert Jahren im Fotostudio seines Großvaters entstanden sind, hat Max Schmelcher einen Sarg geschaffen. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Max Schmelcher gestaltet im Waldramer Badehaus eine "Künstlerische Intervention", die sich erstaunlich gut in den Erinnerungsort einfügt. Der Allgäuer Bildhauer arbeitet mit Materialien, die nicht vergessen.

Von Stephanie Schwaderer, Wolfratshausen

Da liegt also das Buch der Bücher. Aufgebahrt in einem kleinen Raum, der dem religiösen Leben im Badehaus gewidmet ist. Ein wenig zerfleddert ist es. Kein Wunder. Seine Seiten sind zehntausend Jahre alt. Welchen Stoff es birgt, übersteigt die Vorstellungskraft. Man würde es gerne anfassen. Und man darf es anfassen! "Das hält schon was aus", sagt Max Schmelcher in seiner trockenen Art. Das Buch ist rau wie Holz. Schmelcher hat es aus Schwarzmoor geschaffen. Der Allgäuer macht nicht viele Worte - nicht um sich, nicht um seine Kunst. Aber seine Arbeiten sprechen für sich. Ganz eindringlich tun sie das gerade im Erinnerungsort Badehaus in Waldram.

Ein Buch, das Stoff aus zehntausend Jahren birgt. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Bei seiner "Künstlerischen Intervention" in den Museumsräumen beschränkt sich der Bildhauer auf zwei außergewöhnliche Materialien. Beide sind auf ihre Weise vielschichtig und rätselhaft, beide tragen das Thema Vergänglichkeit in sich. Da ist zum einen der lebendige Werkstoff Moor, den Schmelcher aus mehreren Metern Tiefe gräbt, knetet, formt, trocknet - und der ihn immer wieder selbst überrascht. Und da sind mehr als hundert Jahre alte silberbeschichtete Glasplatten aus dem Fotostudio seines Großvaters. Tausende davon habe er auf dem Dachboden gefunden, erzählt er. Niemand habe sie haben wollen. "Dann muss man sich halt etwas einfallen lassen."

Wer das Badehaus betritt, durchschreitet einen gläsernen Tunnel - und taucht ein in fremde Erinnerungen: Hochzeiten und Kommunionen, Bilder von stolzen Männern, ernsten Frauen, speckigen Babys, die bäuchlings auf einem Fell liegen. Alle Gesichter und Hände sind pechschwarz, es handelt sich ja um Negative. Das Einzige, was man von diesen Menschen weiß, ist, dass sie alle tot sind. Und dass sie einmal in einem Fotostudio in Lindenberg etwas vermeintlich Großes gefeiert und für einen Moment die Zeit angehalten haben. Ihre Namen kennt niemand mehr.

Auch einen Sarg hat Schmelcher aus diesen Platten geschaffen. Von der Seite kann man hineinschauen. Durch die Schrägen und die Spiegelungen auf dem Glas lösen sich Oben und Unten auf, die Aufnahmen verschwimmen ineinander. Die dritte Arbeit aus dieser Reihe fügt sich so perfekt in ihr Umfeld - den Raum, der den jüdischen Displaced Persons gewidmet ist - ein, dass man sie für einen Teil der Dauerausstellung halten könnte. Neben abgewetzten Lederkoffern und einem Kinderwagen hat Schmelcher zwei schwere Koffer aus Glas abgestellt. Auch in sie sind Fotoplatten eingelassen. Welche Erinnerungen nimmt man mit? Was wiegen sie?

Wer das Badehaus betritt, muss durch den Tunnel der Erinnerung. (Foto: Harry Wolfsbauer)
Was nimmt man mit? Wie schwer ist es? (Foto: Harry Wolfsbauer)

Sein Großvater sei ein Fremder für ihn, sagt der Künstler. Er habe nichts über ihn herausfinden können. Geprägt wurde er hingegen von seinem Vater, einem Maler. Der habe ihm geraten, "etwas G'scheites" zu lernen. Daraufhin sei er durch die halbe Welt gereist und habe schließlich die Bildhauerei für sich entdeckt. Schmelcher, 1956 in Lindenberg geboren, hat an der Akademie in München studiert und war froh, als er ins Allgäu zurückkehren konnte. "Man muss Glück haben, in einer so tollen Gegend zu wohnen." In Scheidegg hat er sich ein Zuhause und ein Atelier geschaffen.

Mitte der Neunzigerjahre, bei Ausflügen ins benachbarte Moor, hat er dort jenen Stoff wiederentdeckt, der ihn schon als Bub faszinierte: getrockneter Moorschlamm. Streng verboten sei es ihnen als Kindern gewesen, sich den Moorlöchern zu nähern, erzählt er. Was natürlich ein großer Anreiz war, heimlich hineinzuspringen: "Der eine hat zur Sicherheit einen Ast gehalten, der andere ist nei g'juckt." Nach den verbotenen Bädern bildeten sich auf der Haut diese einzigartigen Schuppen.

"Was willsch mit dem Dreck", hat man ihn gefragt

Schmelcher begann zu experimentieren. Zunächst stieß er auf wenig Verständnis. "Was willsch mit dem Dreck", hat man ihn auf einer Ausstellung in Kempten gefragt. Das fragt heute niemand mehr. Kinder lernen in der Schule, wie wertvoll Moore sind. Er arbeitet mit einem Rohstoff, der im Jahr einen Millimeter wächst. Holt er ihn aus vier Metern Tiefe, ist dieser also 4000 Jahre alt. "Und dennoch finden sich noch Fasern oder Hölzer darin", sagt er. Beim Trocknungsprozess, der sich Tage, Wochen und Monate, manchmal auch Jahre hinzieht, entstehen Spannungen, die sich in Furchen, Rissen oder Wölbungen niederschlagen. "Ich lasse die Natur mitarbeiten." Je dicker man das Material auftrage, desto stärker schrumpfe es. "Am Ende ist es so hart wie Holz und lässt sich nicht mehr aufweichen."

Auch in der einstigen Mikwe des Badehauses arbeitet das Moor derzeit unermüdlich mit. Dort hängt ein in schwarzbraunes Wasser getränktes Leintuch von der Decke und schreibt auf den Boden - Tropfen für Tropfen - seine Signatur. "Großartig", sagt Sybille Krafft. "Als ob dieses Objekt für uns geschaffen worden wäre."

Max Schmelcher im Gespräch mit Sybille Krafft. (Foto: Harry Wolfsbauer)

Die Badehaus-Chefin hat Schmelcher erstmals bei Filmaufnahmen getroffen, die sie vor 20 Jahren im Westallgäu für die BR-Serie "Unter unserem Himmel" gemacht hat. Ausschnitte davon sind bei der gut besuchten Vernissage zu sehen, die vom Jazzgarden Quartett umrahmt wird. Über die Jahre seien sie in Verbindung geblieben, sagt Krafft. "So einen renommierten Künstler könnten wir uns sonst nicht leisten." Schmelcher hat dem Badehaus seine Intervention geschenkt.

Nach dem Podiumsgespräch scharen sich die Leute um seine Werke, tauschen sich aus, diskutieren, kommen ins Erzählen. Auch Schmelcher ist stets dicht umlagert. Eine zierliche Frau mit weißem Haar wartet eine ganze Weile, bis sie an der Reihe ist. Dann bedankt sie sich bei ihm. Ihr ganzes Leben schon sei sie vom Moor umgeben, sagt sie. "Sie haben mir einen ganz neuen Blick darauf geschenkt."

Die Intervention "Erinnerung in Glas - Geschichte im Moor" ist bis 3. März im Badehaus (Kolpingplatz 1, Waldram) zu sehen, geöffnet freitags 9 bis 17 Uhr, samstags/sonntags 13 bis 17 Uhr, weitere Informationen unter erinnerungsort-badehaus.de .

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