Geflüchtete in Bad Tölz-Wolfratshausen:"Der Krieg hat unser Leben auf Pause gestellt"

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13,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben seit Kriegsbeginn ihr Land verlassen. Auch in Bad Tölz-Wolfratshausen sind zahlreiche Betroffene angekommen und suchen Schutz. (Foto: Andreas Friedrichs/Imago)

Seit mehr als einem Jahr hagelt es Bomben auf die Ukraine. Wie geht es den Geflüchteten in Bad Tölz-Wolfratshausen? Welche Probleme haben sie? Protokolle von Menschen, die ihre Heimat verloren haben.

Protokolle von Celine Chorus, Bad Tölz-Wolfratshausen

Seit Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, hat der Angriffskrieg großes Leid über das Land gebracht - und viele Menschen haben wegen der anhaltenden Zerstörung ihre Heimat verloren. 13,7 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer haben nach Angaben des UN-Flüchtlingskommissariats seit Kriegsbeginn ihr Land verlassen. Zurzeit halten sich 6,3 Millionen Menschen in den europäischen Nachbarstaaten auf, mehr als sieben Millionen sind innerhalb der Ukraine auf der Flucht. Die SZ hat mit fünf Geflüchteten über ihr neues Leben in Deutschland gesprochen - und darüber, mit welchen Problemen sie konfrontiert wurden.

Kristina Maslova ist ohne ihren Ehemann nach Wolfratshausen geflüchtet. Wenn sie alleine wäre, würde sie zurückkehren - aber ihre beiden Söhne sollen nicht im Kriegsgebiet aufwachsen. (Foto: Hartmut Pöstges)

"In meiner Heimat ist alles zerstört"

Kristina Maslova, 36, aus Charkiw: "Ich lebe mit zwei Kindern in einem fremden Land, ohne zu wissen, was morgen ist. Das ist eine schwierige Situation. Meine Söhne möchten wieder nach Hause. Wir leben alle mit den Gedanken in der Ukraine. Auf meinem Handy habe ich eine App installiert, die mich sofort informiert, wenn es in Charkiw Luftalarm gibt.

In den ersten Kriegstagen haben wir in einem Keller gelebt. Es war kalt, wir konnten nichts sehen und hatten auch nicht genug Lebensmittel, aber wir wollten trotzdem nicht gehen. Erst als mein jüngstes Kind aufgehört hat zu sprechen, wusste ich, dass wir nicht länger in der Ukraine bleiben können. Bei unserer Flucht waren wir erschrocken, was alles zerstört wurde.

Deutschland hat uns sehr freundlich begrüßt. Wir sind der deutschen Familie, bei der wir gelebt haben, sehr dankbar für ihre Unterstützung. Sie haben unseren Schmerz verstanden.

Hier helfe ich ehrenamtlich in einem Asylzentrum und besuche einen Sprachkurs. Danach plane ich, arbeiten zu gehen. Das war bislang nicht so einfach, weil ich keinen Kita-Platz gefunden habe. Ich habe Psychologie studiert und in der Ukraine als Human-Resources-Managerin gearbeitet. Wenn ich in Deutschland bleiben und in diesem Beruf weiterarbeiten möchte, muss ich mein Diplom anerkennen lassen und ein höheres Deutsch-Niveau haben.

Wir wissen nicht, wie es in der Ukraine weitergeht. Wenn ich alleine wäre, würde ich zurückkehren und dort mit meinem Mann leben - aber ich habe Kinder und muss eben tun, was für sie das Beste ist. In meiner Heimat ist durch den Krieg alles zerstört."

Anzhelika Harmash ist mit ihrer Familie in das Land geflüchtet, in dem ihre Großmutter 1944 geboren wurde. Hier möchte sie den Menschen mit ihrer Musik eine Freude bereiten. (Foto: Harry Wolfsbauer)

"Musik verbindet und heilt die Herzen"

Anzhelika Harmash, 31, aus Charkiw: "Die Erkenntnis, dass der Krieg begonnen hat, kam nicht sofort. Die Entscheidung, Charkiw zu verlassen, ist uns schwergefallen. Ist es überhaupt möglich, sein ganzes Leben in einen Koffer zu packen? Die ersten Monate in Deutschland war ich sehr deprimiert. Der Krieg richtet großen Schaden an und kostet viele Menschen das Leben. Er ist eine große Belastung für uns alle. Jedes Mal, wenn ich die Nachrichten schaue, mache ich mir Sorgen um meine Familie und meine Freunde.

Wir sind im März vergangenen Jahres nach Deutschland gekommen. Nach unserer Ankunft in München wurden meine Mutter, meine Großmutter und ich in einer Sporthalle in Geretsried untergebracht. Dort haben wir einen Monat gelebt. Für meine Großmutter, die 79 Jahre alt ist, war es eine schwere Zeit. Danach wurden wir von wunderbaren Menschen in einem Hotel in Bad Tölz aufgenommen, wo wir bis heute wohnen.

Wir müssen weitermachen und uns in die deutsche Gesellschaft integrieren, denn das Leben geht trotz des Krieges weiter. Ich bin Deutschland und den Menschen sehr dankbar für ihre Unterstützung und dass sie so nett und freundlich zu uns sind.

Ich bin Opernsängerin und versuche momentan, eine Stelle in diesem Bereich zu finden. Wenn sich die Gelegenheit ergibt, nehme ich auch an Veranstaltungen für wohltätige Zwecke teil, um Spenden für die Ukraine zu sammeln. Ich möchte meinen musikalischen Weg in Deutschland fortsetzen und den Menschen mit meiner Kreativität Freude bereiten. Musik ist das mächtigste Instrument, um die menschliche Seele zu berühren. Sie verbindet und heilt die Herzen der Menschen."

Familie Borovlev hat sich schon gut in Deutschland eingelebt (von links): Sofiia, Yevhenii, Melaniia, Yana und Matvej wohnen in einem Haus in Greiling. (Foto: Harry Wolfsbauer)

"Ich würde gerne mein Diplom anerkennen lassen"

Yevhenii Borovlev, 41, aus Charkiw: "Als in der Ukraine der Krieg ausgebrochen ist, haben wir erst drei Wochen in einem Keller gelebt und sind danach bei meinen Eltern untergekommen. Weil ich gesundheitliche Probleme habe, konnte ich nicht ins Militär eingezogen werden. Anfangs war es auf dem Land besser als in Charkiw, aber dann ist auf meiner Arbeitsstelle eine Rakete eingeschlagen. Da haben meine Frau Yana und ich entschieden, nach Deutschland zu gehen. Wir haben drei Kinder, deswegen konnten wir ins Ausland flüchten.

Die ersten Tage haben wir noch bei Freunden verbracht, dann wurde uns vom Landratsamt ein Haus zugeteilt. Unterstützung haben wir auch von "Hilfe von Mensch zu Mensch" bekommen. Seit mehr als einem Jahr arbeite ich. Erst war ich drei Monate Hausmeister in einem Autohaus, dann habe ich eine Stelle gefunden, die dem entspricht, was ich auch schon in der Ukraine gemacht habe: als Möbelmonteur im Küchenzentrum Oberland. In Zukunft würde ich jedoch gerne mein Diplom als Ingenieur anerkennen lassen und einen Job in diesem Bereich finden. Davon werden wir auch abhängig machen, ob wir nach Kriegsende in Deutschland bleiben.

Probleme gibt es eigentlich nur mit der Sprache: Unsere älteste Tochter Sofiia geht in eine "Brückenklasse" für Kinder zwischen zehn und 16 Jahren. Das macht es für sie schwieriger, Deutsch zu lernen, als für ihre jüngere Schwester Melaniia. Die besucht eine deutsche Klasse und spricht schon so gut wie ich, wenn nicht sogar besser (lacht). Ich konnte schon ein bisschen Deutsch, bevor wir nach Greiling gekommen sind. Das hat uns sehr geholfen. Ich besuche täglich von 18 bis 21 Uhr einen Sprachkurs, die Zeiten sind wegen der Arbeit aber manchmal schwer einzuhalten."

Yuliia Miroshnychenko und ihre Familie sind den Menschen in Bad Tölz sehr dankbar. Ihre Offenheit und ihr Verständnis haben geholfen, sich in einem neuen Land zurechtzufinden. (Foto: Harry Wolfsbauer)

"Dieses Universum wurde uns genommen"

Yuliia Miroshnychenko aus Charkiw: "Ich hätte niemals gedacht, dass die Welt so zerbrechlich ist. Ich bin schon immer gerne gereist und habe meine Heimat nicht vermisst, wenn ich sie für ein oder zwei Wochen verlassen habe. Ich hatte den Eindruck, dass mein Zuhause nichts Besonderes, nur ein Ort zum Schlafen sei. Der Krieg hat mir gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Es ist meine kleine Welt mit Dingen, die mir am Herzen liegen und mich an jedes Ereignis in meinem Leben erinnern. Dieses Universum wurde uns genommen, entstellt und verkrüppelt.

Sobald wir Sirenen gehört haben, sind meine Eltern und ich mehrmals am Tag in den Keller gegangen. Ich habe versucht, meine Eltern zur Flucht zu überreden, aber sie wollten nicht. Sie haben ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht. 43 Tage vergingen auf diese Weise. Dann haben wir beschlossen, Charkiw zu verlassen. Es war eine sehr schwierige Situation für uns. Wir haben viel geweint, weil wir nicht wussten, wo wir leben werden. Es war unmöglich, in den Zügen einen Platz zu finden, und wir haben zwei davon verpasst. Jedes Mal mussten wir 20 Stunden warten.

Die erste Zeit in Deutschland ist wie im Flug vergangen. Wir konnten nur schlafen, essen und die Nachrichten verfolgen. Langsam fühlen wir uns hier immer lebendiger. Ich lerne Deutsch und arbeite als Freiwillige bei der Tafel und im Kleiderladen vom Roten Kreuz. Die Arbeit hilft mir, nicht so viel an die Ukraine zu denken. Ich bin bereit, mich in Deutschland zu integrieren und möchte diesem Land nützlich sein. Ich denke aber auch an meine Eltern: Sie sind alt und werden sie hier bleiben können, wenn der Krieg vorbei ist? Ich liebe meine Eltern und ich möchte für sie sorgen. Wenn wir bleiben, dann nur zusammen.

Es gibt dieses Sprichwort: Das erste Jahr ist immer das schwerste. Jetzt lebe ich seit April vergangenen Jahres in Deutschland und es ist trotzdem beunruhigend, an die Zukunft zu denken. Der Feind beschießt unser Land weiterhin mit Artillerie und Raketen. Jeden Tag bekommen die ukrainischen Städte neue Narben. Der Krieg hat mich gezwungen, viele Dinge auf eine neue Art und Weise zu sehen. Jetzt weiß ich, dass ich das Leben früher nicht in vollem Umfang zu schätzen wusste. Ich freue mich über jeden neuen Tag, weil es bedeutet, dass das Leben noch weitergeht."

Familie Muzykant macht sich nun mehr Gedanken, was sie alles erreichen möchten (von links): Tamara Krat (Großmutter), Oleksii, Olha (Mutter) und Marianna haben in Deutschland einen neuen Sinn im Leben gefunden. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Meine Kinder haben mich dafür gehasst"

Olha Muzykant, 53, aus Saporischschja: "Als wir im März eine Rede von Präsident Selenskij gehört haben, dass es im Atomkraftwerk Saporischschja brennt, habe ich mich zur Flucht entschieden. Meine Mutter Tamara wollte die Ukraine erst nicht verlassen. Im Juli wären aber zwei Raketen fast in ihrem Haus eingeschlagen, und in dem Moment hat auch sie verstanden, dass sie flüchten muss.

Wir sind am Münchner Hauptbahnhof angekommen und hatten eigentlich nur eine Bitte: dass wir dort, wo wir aufgenommen werden, ein Klavier haben. Das war bestimmt ungewöhnlich, und ich glaube, dass wir dadurch auch Zeit verloren haben. Ich bin aber professionelle Sängerin, und Oleksii und Marianna haben in der Ukraine Musik studiert. Das wollten sie in Deutschland weitermachen.

Die Familie, bei der wir untergekommen sind, hat uns sehr geholfen. Sie haben Lehrer für meine Kinder gefunden und sie oft mit dem Auto nach München gefahren, obwohl es mehr als 50 Kilometer waren. Später haben sie uns auch eine Wohnung vermittelt, die näher an der Stadt ist. Dort können wir aber nicht mehr lange bleiben, weil der Vertrag auf ein Jahr befristet ist. Eigentlich hätten wir schon zum 1. Juli ausziehen müssen, aber wir haben noch keine neue Wohnung gefunden.

Am Anfang hat der Krieg unser Leben auf Pause gestellt. Meine Kinder haben mich dafür gehasst, dass ich mich zur Flucht entschieden habe. Sie hatten das Gefühl, als ob ich ihr Leben zerstört hätte. Im Herzen sind wir immer bei der Ukraine, aber Deutschland ist für uns zu einer zweiten Heimat geworden. Wir danken den wunderbaren Menschen, die unserer Familie beim Start in ein neues Leben geholfen haben."

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