SZ-Serie: Angekommen:Auf den Ruinen der Sprengstoff-Bunker gebaut

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Die Nazis produzierten in Geretsried in hunderten Fabrikgebäuden im Wald Munition. Nach dem Krieg wurden viele gesprengt - einige wurden zu Häusern umgestaltet.

Von Johanna Klein, Geretsried

Ein kurzer Blick auf das Luftbild genügt, und Martin Walter weiß sofort, wann es entstand: "Das muss um 1946 gewesen sein." Das Lager Buchberg auf der heutigen Böhmwiese, vor allem aber die Bunker der Nazi-Rüstungsbetriebe mitten im Wald teils mit Tarnanstrich, wie ihn auch das Geretsrieder Rathaus einst hatte - der ehemalige Bauamtsleiter der Stadt kennt sie alle.

Martin Walter ist Mitglied im Arbeitskreis "Historisches Geretsried" und organisiert Führungen durch den Wolfratshauser Forst zu den noch bestehenden Bunkern der Munitionsfabriken Dynamit Aktiengesellschaft (DAG) und Deutsche Sprengchemie (DSC). Sie sind nicht nur im übertragenen Sinne das Fundament, auf dem die Stadt Geretsried nach dem Zweiten Weltkrieg entstand.

Seit 1938 bauten die Rüstungsbetriebe nach und nach rund 650 Bunker in den Wald, um darin die Munitionsproduktion unterzubringen. Anfangs schuften noch dienstverpflichtete Deutsche aus München und Umgebung dort, später tausende Zwangsarbeiter. Die Gebäude entstehen getarnt im Wald oder gleich unter Erdhügeln begraben. Sie waren aus der Luft kaum zu erkennen, die Arbeiten laufen bis zum Ende des Krieges.

Nicht alle Bauten wurden seinerzeit fertiggestellt - etwa der bekannte "Blaue Bunker" nahe des Isardamms, der wegen der Graffiti-Malereien so heißt. Das war der Rohbau der Abteilung zur Herstellung des Granaten-Sprengstoffs Pikrinsäure. 1943 wurden die Bauarbeiten jedoch eingestellt, weil die gefährliche Säure durch TNT ersetzt wurde.

Kurz nach Kriegsende gaben die Amerikaner den Befehl, viele der geheimen Bunker zu sprengen - so auch 1948 der "Blaue Bunker", der aber in Teilen erhalten blieb. "Sie hatten Angst, dass etwas in die Luft fliegt", sagt Walter. Doch sein Vater Emil setzte sich dafür ein, dass nur die für die Bevölkerung uninteressante Bunker gesprengt wurden. Denn er erkannte die Wichtigkeit der teils unterirdischen, teils oberirdischen Betongebäude, die bereits eine geheime Stadt im Wald bildeten - mit Straßen, Stromnetz, Telefonleitungen, Wasser, Kanalisation. Allein die Deutsche Sprengchemie verfügte über neun Kilometer Gleise im Wald.

Die ersten Menschen, die mit den Vertriebenentransporten 1946 ankamen, wurden in die Baracken des Arbeitslagers Buchberg einquartiert. "Die kamen an, schauten raus und sahen Stacheldraht und Baracken, ein schöner Anblick war das sicher nicht", sagt Walter. Später, als es dort zu eng wurde, kamen viele Menschen auch in Bunkern unter - zum Beispiel im heutigen Geretsrieder Rathaus, das einst als Verwaltungsgebäude der Dynamit Aktiengesellschaft gebaut wurde und nach dem Krieg im Volksmund "Steinhaus" hieß.

Bei der Demontage der Munitionsfabriken, an der auch Walters Vater beteiligt war, wurden dreckige Kessel, Rohre und andere Bestandteile der Fabriken als Reparationsleistungen nach ganz Europa transportiert. Es wurden viele Arbeitskräfte gebraucht, so gab es immerhin Arbeit, sagt Walter. Andere Firmen wurden schnell in den alten Munitionsfabriken gegründet, und eines der neuen Unternehmen begann schon 1946, Textilhilfsmittel zu produzieren. Walter selbst kann sich an die Anfänge der Nachkriegszeit kaum erinnern: Er war damals, als die ersten Transporte mit Heimatvertriebenen ankamen, gerade einmal drei Jahre alt.

Oft spielte er mit anderen Kindern in den Bunkern: "Als Bub war das natürlich abenteuerlich. Manchmal fanden wir auch alte Sprengstoffreste, da erklärte mein Vater uns dann, wie man damit umging", erinnert sich Walter. In den nicht besetzten und bewohnten Bunkern zu spielen, war gefährlich - und deshalb auch eigentlich nicht erlaubt. Vor den meisten stand Wachpersonal, das Neugierige nicht in die in die Gebäude ließ.

Heute kann man viele der mit Moos bewachsenen Bunker nur noch erahnen. Man übersieht die Überreste schnell, und es kann passieren, dass man über Steine oder kleine Stahlgitter stolpert, wenn man nicht auf den betonierten Wegen läuft. Martin Walter kennt aber die spannendsten Stellen. Zum Beispiel den früheren Bunker 108 im Haydnweg, von dem nach dem Krieg nur das Gerippe stand - und der zu einem Haus umgebaut wurde. Walter bestückt seine Führung zudem noch mit Zahlen und Informationen. Zweieinhalb bis drei Stunden dauern die Touren - je nach Wetter. "Es ist allerhöchste Eisenbahn, die Geschichte aufzuarbeiten, denn wenn wir es nicht tun, macht es keiner", sagt Walter.

Einen Mythos muss Martin Walter aber bei den Touren entzaubern: Die angeblich so mysteriösen Gänge zwischen den früheren Bunkern unter Geretsried sind nicht so geheimnisvoll und werden bei den Führungen auch nicht betreten. Es handelt sich um begehbare Stollen, in denen Rohre verliefen - etwa Druckluftleitungen zur Munitionsfabrikation. Die Gänge dienten keinen mysteriösen Zwecken, sondern waren schlicht für den Fall eines Defekts an den Leitungen nötig. Walter sagt: "Dort ist viel Müll, und manchmal steht das Grundwasser bis zum Bauch."

Die nächsten Führungen finden statt am Sonntag, 10. April, und am Samstag, 16. April, Treffpunkt jeweils um 14 Uhr am Netto-Parkplatz, Sudetenstraße 68 . Nicht bei schlechtem Wetter.

© SZ vom 04.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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