SZ-Adventskalender:Gewalt, Missbrauch, Schmerz und Angst

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Die Dunkelziffer häuslicher Gewalt ist groß. Oft schauen indirekt Beteiligte weg und machen sich damit zum Mittäter. Auch bei Emilia D. war das so. Deren Mutter konnte oder wollte die Kinder nicht vor dem brutalen Vater schützen. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Emilia D. und ihre Schwestern wurden jahrelang vom Vater gequält. Das Trauma ist so groß, dass die Frau nicht mehr arbeiten kann und nach dem Selbstmordversuch eine Therapie absolviert. Sie hätte gerne ein kleines Auto, vor allem aber warme Winterkleidung.

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

"Als ich geboren wurde, waren meine Schwestern bereits in der Hölle", sagt Emilia D. (Name geändert). Und was sie im Folgenden beschreibt, lässt in der Tat kaum ein anderes Wort zu. Denn sowohl ihre Familiengeschichte als auch ihre eigene Biografie ist ein schier unfassbares Konglomerat aus Gewalt, Missbrauch, Schmerz und Angst. Wie sehr die Erlebnisse Emilia auch Jahrzehnte später noch prägen, ist überdeutlich: Nur zögerlich, nur abschnittsweise kann sie überhaupt davon erzählen, immer wieder bricht sie in Tränen aus. Es schüttelt die heute Ende 40-Jährige geradezu durch, das Gesicht vergräbt sie tief im Taschentuch, nur um langsam wieder genug Kraft zu sammeln, um weiter zu erzählen. Zu erzählen von all dem, wofür sie Jahre der Therapie brauchte, und das eigentlich nur die engsten Vertrauten und Therapeuten wissen dürfen. Und doch will sie darüber sprechen, denn es ist an ihre einzige Hoffnung geknüpft: dass es irgendwann besser wird. Dass ihr das Leben vermittelt, dass es gut und lebenswert ist.

Aber von vorne, zu den Wurzeln der Angststörungen und Depressionen, die Emilia bis heute gefangen halten. Das Mädchen wird als jüngstes von drei Schwestern geboren. Zu diesem Zeitpunkt missbraucht der Vater bereits die beiden älteren Geschwister, sowohl psychisch wie physisch und sexuell. Während sich der Mann an den Kindern vergreift und ihnen mit dem Tode droht, sollten sie sich irgendjemandem anvertrauen, schaut die Mutter weg. "Sie hat immer gearbeitet, sich quasi in ihrer Arbeit vergraben, und hat später behauptet, sie habe nie etwas davon mitbekommen", erzählt Emilia. Als Kleinkind wurde sie "dauernd irgendwo abgegeben", sie wächst teils bei Pflegeeltern, teils bei den Großeltern auf, bis sie das Kindergartenalter erreicht hatte. "Dieses Gefühl des Verlassenwerdens, des Verlassenseins, das ist bei mir ganz schlimm", erzählt sie. Als sie zurück in der Familie ist, sind es die älteren Schwestern, die sie aufziehen. Die Mutter habe sie bis heute als abwesend respektive arbeitend in Erinnerung. An den Vater hat sie schlimme Erinnerungen. Wenn er von der Arbeit kam, habe er "seine Schweinereien" ausgelebt. Sie selber habe sich in diesen grausamen, widerwärtigen Szenen viele Jahre lang "rausgenommen", wie Emilia es formuliert: "Die Erinnerungen gehen nur bis zu einem gewissen Punkt".

Doch inzwischen sei klar, dass auch sie Opfer des Missbrauchs wurde. "Als ich immer krassere Zustände bekam, etwa wenn mich ein Arzt untersuchen wollte, hat sich das Puzzle mehr und mehr zusammengesetzt." Unter all den Schlägen und der Gewalt, unter all den "Terrorszenarien", wie sie es nennt, hätten die beiden Schwestern noch mehr gelitten als sie: "Er hat sie manchmal gepackt und mit dem ganzen Körper gegen die Wand geschlagen, immer und immer wieder", erzählt Emilia. "Und manchmal würgte er sie so stark, dass sie ohnmächtig wurden."

Der Mann, den sie heute nicht mehr beim Namen oder gar Vater nennen will, habe sich "immer für Gott gehalten - außer ihm gab es niemanden, und er brauchte auch niemanden". Das habe auch die Mutter zu spüren bekommen, von Beginn an: "Er hat sie in den Bauch getreten, als sie hochschwanger war, sich auf sie drauf gesetzt, um die Wehen zu beschleunigen, und keinen Arzt oder eine Hebamme bei der Geburt ins Haus gelassen, denn niemand durfte den Intimbereich seiner Frau sehen außer ihm", erzählt sie. Als der Mann in einem seiner Wutanfälle die Familie auch noch mit einem Gasgrill im Zimmer vergiften will, "da hatte ich den Tod schon vor Augen", erinnert sich Emilia, damals keine zehn Jahre alt.

Doch erst, als die ältere Schwester in ihrer Not und Verzweiflung die Mutter mit der ganzen Wahrheit konfrontiert, gerät das "Terrorregime" ins Wanken. "Die Polizei ist damals anonym verständigt worden, und mein Erzeuger wurde daraufhin auch von den Beamten verhaftet." Er wurde verurteilt und kam in Haft, allerdings nur für wenige Jahre. Nachdem der Vater verurteilt war, starb das mittlere der drei Kinder plötzlich an einem Aneurysma. Emilia wollte ihre Schwester wecken, "aber da war sie schon ganz blass und kalt." Eine Autopsie klärte später die Todesursache. "Bis heute frage ich mich aber, ob es vielleicht doch auch damit zu tun hatte, dass sie so sehr geschlagen wurde, immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand oder den Fußboden."

Weiter kommt Emilia nicht mit der Erzählung, zu sehr belastet die Erinnerung. Minutenlang muss sie erst wieder um Fassung ringen, um wieder Worte zu finden. Denn ausgerechnet auf der Beerdigung der Schwester sah die Familie ihren Peiniger wieder. "Er hatte Hafturlaub dafür bekommen", entsetzt sie sich. "Da stand er also, dicht hinter uns, am Grab. Das war einfach nur entsetzlich, all die Ängste kamen hoch." Es sollte das letzte Mal sein, dass sie den Mann, der so viel Leid brachte, sehen musste. Er sei inzwischen gestorben. Mit ihrer Mutter habe sie heute ein schwieriges Verhältnis, sie sei inzwischen ausgewandert. Und dies zu einem Zeitpunkt, als die verbliebenen Schwestern erneut ihre Unterstützung gebraucht hätten, denn auch ihre eigenen Beziehungen verliefen alles andere als gut. "Toxische Ehen", bringt Emilia es auf den Punkt.

Bei dem Versuch, es besser zu machen als ihre Eltern, brachte sich Emilia immer mehr in die Überforderung. "Ich wollte immer stark sein, für meine Schwester da sein, als es ihr nicht gut ging. Sie ist ja schließlich auch sehr traumatisiert durch das, was sie mitmachen musste." Die Ältere der beiden sei zunehmend selbstmordgefährdet gewesen und Emilia dadurch in steter Alarmbereitschaft. Obwohl sie ihre Schule und Ausbildung in Rekordzeit absolvierte, schaffte sie es irgendwann nicht mehr, im Beruf die volle Leistung zu bringen und gleichzeitig für ihre Schwester da zu sein, als diese immer tiefer fiel. Emilia wechselte in weniger qualifizierte Jobs, um flexibler zu sein, doch der Druck nahm zu und die Finanzlage wurde enger.

"Ein Leben unter permanentem Stress, bei dem man die Positionen wie mit einem Schalter dauernd wechseln muss, und letztlich am Existenzminium kratzt", beschreibt sie. Nachts ging sie putzen, um das nötige Geld für Miete und Lebensmitteln zu verdienen, tagsüber versuchte sie, ihre Schwester zu unterstützen, die zunehmend labiler wurde in einer Ehe mit einem ebenfalls gewalttätigen Mann. Emilias Ehemann war ebenfalls keine Stütze, er betrog sie und hinterließ zudem Schulden. "Irgendwann stand ich dann in der Küche, sah Tabletten und habe sie alle in mich reingestopft".

Im Krankenhaus wurde sie gerettet, doch die Ärzte erkannten die schwierige Gemengelage und wollten sie nicht entlassen ohne Therapietermin und Hilfsangebote. Ob ihrer diagnostizierten Traumata, Depressionen und Angststörungen ist sie heute erwerbsunfähig, ein Wirbelbruch erschwert ihr den Alltag zusätzlich.

Auch wenn sie etwas Geld vom Opferausgleichsfond erhält, so reichen ihre finanziellen Mittel derzeit nur knapp für das Nötigste. Emilia lebt heute in einem Zehn-Quadratmeter-Apartment, das das Wort von einer Wohnung nicht verdient. Mehr als ein winziges Bad und eine kleine Küchenzeile ist es nicht, wobei sie die Küchenzeile nachts mit einem Klappgestell zu einer Schlafgelegenheit umfunktioniert. Rund 300 Euro kostet das trotzdem monatlich, zum Leben bleiben ihr dann noch etwa 200 Euro im Monat. In Kürze darf sie jedoch auf ein paar Euro mehr hoffen, die sie für ihren ganz großen Traum zurücklegen will: ein kleines Auto. "Denn hier auf dem Land ganz ohne, das ist anstrengend." Ihre Wege zur Therapie oder zum Einkaufen seien "Weltreisen, die oft nachts um vier beginnen müssen, damit ich es rechtzeitig schaffe". Die laufenden Kosten eines Autos könnte sie decken, nicht aber den größeren Anschaffungspreis. "Aber träumen ist gut, das treibt einen an", sagt Emilia und lächelt kurz. Auch über ein bisschen Winterkleidung würde sie sich freuen - eine Freude, die nur nachvollziehen kann, wer trotz der Tränen den Funken Hoffnung in Emilias Augen bemerkt.

© SZ vom 30.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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