SZ-Adventskalender:"Ich bin nix Mensch"

Lesezeit: 2 min

(Foto: SZ)

Ali T. arbeitet 30 Jahre lang fleißig. Doch nach einem schweren Arbeitsunfall wird der Familienvater arbeitslos und rutscht in eine Depression.

Von Claudia Koestler, Bad Tölz-Wolfratshausen

Wie sehr ein erster optischer Eindruck doch täuschen kann: Ali T. ( Name von der Redaktion geändert) verkörpert äußerlich den Prototyp eines Mannes, den nichts umwerfen kann. Kräftig in der Statur, mit präsentem Auftreten, einer Stimme, die sich Raum verschaffen kann und einem Händedruck wie ein Schraubstock. Doch als Ali T. an dem kleinen Tisch sitzt und zu erzählen beginnt, nach und nach und vorsichtig Einblicke in seine Existenz gewährt, wird schnell klar, dass ihn so manche Erlebnisse beinahe gebrochen haben. Am Ende des Gesprächs laufen ihm Tränen über die Wange, verschämt wischt er sie mit dem Handrücken beiseite und entschuldigt sich mit leiser, fast flüsternder Stimme: "Ich sollte nicht weinen, aber die Tränen kommen einfach."

Ali T. hat Angst vor der Scham, dass er um Hilfe bitten muss. Doch einen Grund dazu hat er nicht, denn der Mitte Fünfzigjährige hat keine Fehler im klassischen Sinn gemacht. Er hat vertraut auf seine Kraft, seinen Willen, sich etwas aufzubauen, und auch auf das soziale Netz in Deutschland. Ali T. hat seinen Beitrag geleistet, und fiel doch durch die Maschen.

"Es war ein schönes Leben, zumindest am Anfang", beginnt Ali T. zu erzählen. Als junger Mann kommt er aus der Türkei nach Deutschland, "damals waren junge, kräftige Leute gesucht, die anpacken konnten." Er lernt eine Frau kennen, sie heiraten und bekommen Kinder. "Eine gute Zeit", sagt er heute. Die Arbeit in einem metallverarbeitenden Beruf sei zwar körperlich schwer und anstrengend gewesen, "aber ich bin ein starker Mann, das war kein Problem." Jahrzehntelang arbeitet er, "ohne auch nur einmal krank zu sein", berichtet er nicht ohne ein bisschen Stolz. Doch dann ereignet sich ein Arbeitsunfall: Ihm fällt ein schweres Metallteil auf den Kopf. Ali T. kommt ins Krankenhaus, es folgten mehrere stationäre Aufenthalte und mehrere Rehabilitationsmaßnahmen. Doch bevor er wieder zurückkehren kann, schließt die Firma, in der er angestellt war, und die Spirale abwärts nimmt ihren Lauf. Denn andere Arbeitgeber sähen sein Alter, sähen seine Krankheitsgeschichte, und suchten sich andere. Seither ist er arbeitslos und rutschte vom Krankengeld in Arbeitslosengeld. "Ich bin nix mehr", schluchzt er. "Ich habe 30 Jahre gearbeitet, ich habe Steuern gezahlt und alles. Aber ohne Arbeit ist das Leben so schwer, dann bist Du nix Mensch." Seine Jugend, seine Kraft und seine Gesundheit habe er in dem Unternehmen in Deutschland gelassen.

Zwei seiner Kinder stehen inzwischen auf eigenen Füßen und versuchen, ihren Vater zu unterstützen - doch da ist sie wieder, diese Scham. Er leidet psychisch unter dem Gefühl, versagt zu haben, und damit geht eine schwere Depression einher. Er leidet unter dem sozialen Abstieg und dass das Geld oft am Ende des Monats nicht ausreicht. Dabei versuche er, zu sparen, wo es nur geht. Kleidung trägt er auf, bis sie sich auflöst, Möbel gibt es nur gebraucht. Das wiederum führt zu Spannungen mit seinem jüngsten Kind, das sich in der Schule schämt, auf Hilfsleistungen angewiesen zu sein, um unter anderem Arbeiten am Computer ausführen zu können. Hier einmal selbst etwas anschaffen zu können, davon träumt er. Oder aber von ein bisschen Winterkleidung für die Familie, von ordentlichen Schuhen, die im Schnee nicht ihre Sohlen verlieren. Und zu der Scham kommen weitere gesundheitliche Sorgen: Kurz vor dem Gespräch war Ali T. beim Zahnarzt, der ihm die schlimmen Schmerzen schon nehmen könnte - wenn er denn ein paar hundert Euro zuzahle. Als Ali T. sich überwand und ihm die finanzielle Lage erklärte, habe ihn der Arzt kurzerhand ohne viele Worte vor die Tür gesetzt. Da war sie wieder, diese Scham. "Nix Mensch", schluchzt er.

Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung Stadtsparkasse München, IBAN: DE86 7015 0000 0000 6007 00 ; BIC: SSKMDEMM

www.sz-adventskalender.de

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ-Adventskalender
:Gemeinsam Kraft tanken

Im Alleinerziehenden-Treff in Bad Tölz geben sich Mütter und Väter gegenseitig Halt und Unterstützung. Außerdem können sie an Vorträgen und Kursen teilnehmen. Nun wünscht sich die Gruppe eine gemeinsame Auszeit.

Von Claudia Koestler

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: