Portrait:Hüter der Stadtgeschichte

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Der 33-jährige Simon Kalleder ist der neue Archivar in Wolfratshausen. Vor allem zum Thema Landgericht sieht er noch Forschungspotenzial. Zunächst steht für ihn jedoch der Umzug vom Pumpenhäuschen an der Loisach in die sanierte ehemalige Landwirtschaftsschule an.

Von Konstantin Kaip, Wolfratshausen

Simon Kalleder hat nur noch wenige Tage Zeit, um den Blick zu genießen, den er von seinem neuen Arbeitsplatz hat: Der 33-Jährige ist seit Anfang März Leiter des Wolfratshauser Stadtarchivs, das noch im alten Pumpenhäuschen an der Loisach untergebracht ist. Von dort aus blickt man auf den Fluss, den Sebastianisteg und die Flößerei. Anfang Mai zieht Kalleder mit dem Archiv dann in die neuen Räume in der frisch sanierten ehemaligen Landwirtschaftsschule um. "Den Blick werde ich wirklich vermissen", sagt er.

Das Lächeln, mit dem er das sagt, zeigt allerdings, dass Kalleder keinerlei Wehmut empfindet, im Gegenteil. Schließlich wird, abgesehen vom Ausblick, mit dem Umzug alles besser. Die klimatischen Bedingungen - bislang "nicht ideal", wie Kalleder sagt - werden mit einer professionellen Lüftungsanlage geregelt; das Fotoarchiv wird eine Kühlung erhalten, um die Dias zu schützen. Es wird Rollregale geben, welche die Nutzbarkeit erleichtern. Vor allem aber: deutlich mehr Platz. "Wir sind hier bis zum Anschlag voll", sagt der gebürtige Münchner im Leseraum über der Loisach und verweist auf die Magazinräume nebenan, in denen sich die nummerierten Pappkartons mit den Dokumenten dicht an dicht in den Regalen stapeln. Im Gebäude an der Bahnhofstraße, an dem bereits ein Schriftzug mit Logo auf das neue Stadtarchiv hinweist, werden nicht nur die Schriftstücke und Bilder mehr Raum bekommen, sondern auch die Nutzer: mit einem großen Lesesaal, der künftig auch für Veranstaltungen genutzt werden soll. "Da ist wirklich alles auf dem neuesten Stand", sagt Kalleder. "Ich bin glücklich."

Der 33-Jährige entspricht mit seinem glatt rasierten, fast jugendlich wirkenden Gesicht zwar nicht unbedingt den gängigen Vorstellungen vom grauhaarigen Archivar mit Strickjacke und dicken Brillengläsern. Dass er seinen Beruf aber mit Leidenschaft ausübt, zeigt sich im Gespräch. Schon während seines Studiums der Geschichte in Bamberg habe er in Archiven gearbeitet, erzählt Kalleder. Im Bayerischen Staatsarchiv in München, wo er bereits für seine Diplomarbeit über die Klostersäkularisation in Altbayern viel Zeit verbracht hatte, sei er dann "praktisch hängengeblieben", sagt er. Zuletzt hat er sich dort um das Archiv der Grafen von Sandizell gekümmert, das der Freistaat in den Neunzigerjahren gänzlich ungeordnet aufgekauft hatte. Aus den Zigarrenkisten, erzählt Kalleder strahlend, hat er dann unter anderem eine Jugendzeichnung von Franz von Lenbach hervorgekramt. Schon im Staatsarchiv hielt er immer wieder Dokumente aus der Loisachstadt in den Händen - aus dem Landgericht Wolfratshausen, dessen Wirkungskreis einst bis in den Münchner Osten reichte.

Kalleder, der derzeit noch in Starnberg wohnt, wird in dem Gebäude an der Bahnhofstraße nicht nur ein eigenes Büro, sondern auch im Westflügel eine Dienstwohnung beziehen. Wolfratshauser Stadtarchivar zu sein, das ist für ihn ein Traumberuf. "Ich wollte genau die Stelle haben", sagt er. "Ich mag die Gegend sehr gern, und in einem kleinen Stadtarchiv ist die Arbeit vielseitiger als beim Staat." Zudem habe Wolfratshausen, etwa mit dem Flößerei-Archiv und den Dokumenten zum Lager Föhrenwald, zahlreiche Alleinstellungsmerkmale von überregionalem Interesse. Er habe bereits Anfragen von Wissenschaftlern aus Potsdam und den USA erhalten. "Es macht Spaß, dass Wolfratshausen so eine lange und nicht unbedeutende Geschichte hat."

Forschungspotenzial sieht der Historiker vor allem noch beim Thema Landgericht, zu dem er gerne auch eine Veranstaltung im neuen Archiv organisieren würde. Die NS-Zeit und das Lager Föhrenwald seien hingegen "sehr gut erforscht", was auch der Arbeit des Historischen Vereins zu verdanken sei, sagt Kalleder. Ihn selbst interessiert ohnehin die frühe Neuzeit am meisten, wie er zugibt. Derzeit ist er vor allem damit beschäftigt, die Arbeit seines Vorgängers Peter Bergmann-Franke weiterzuführen und die Bestände, die in so genannten Findbüchern registriert sind, digital zu erfassen. Dass der ehemalige Stadtarchivar entschieden hat, dafür dasselbe Programm wie der Staat zu nutzen, erleichtere seine Arbeit enorm, sagt Kalleder. Dennoch müsse er jede Akte durchsehen, um auch den Zustand zu erfassen.

Dabei hat er auch schon echte Preziosen in der Hand gehalten: etwa eine Antwort von König Ludwig II. auf ein Kondolenzschreiben der Loisachstadt zum Tod seines Vaters - eigenhändig unterschrieben. "Das ist wirklich selten", sagt Kalleder. Besondere Stücke seien auch die Markturkunden, die bis ins Jahr 1323 zurückgehen und zweimal durch den Krieg gerettet wurden, wie Kalleder sagt: "Einmal sind sie in einem Fass im Kochelsee versenkt worden, dann wurden sie bei einem Bauern in Mittenwald versteckt."

Die weißen Handschuhe, die auf dem Tisch liegen, benutzt der Archivar aber meist nur für Fotos. Die wirklich alten Dokumente fasse man so selten an, dass man sie ruhig mit den bloßen Händen berühren könne, sagt Kalleder. "Außerdem sind Büttenpapier und Pergament eigentlich sehr robust." Viel größere Sorgen machten Dokumente aus der Nachkriegszeit. "Das Papier ist oft so säurelastig, dass es regelrecht zerfällt, und zwar irreversibel."

Kisten packen müssen Kalleder und seine vier ehrenamtlichen Mitarbeiter nicht. Den Umzug übernimmt eine Spezialfirma, welche die Dokumente innerhalb von zwei Tagen in die neuen Räume schafft. Dann wird er dort noch eine Weile mit dem Sortieren beschäftigt sein, bevor der Betrieb losgeht. Die offizielle Eröffnung mit geladenen Gästen soll erst im September stattfinden. Kurz danach will Kalleder einen Tag der offenen Tür für die Wolfratshauser veranstalten. Die genauen Öffnungszeiten des neuen Stadtarchivs stehen noch nicht fest. Sie sollen aber "deutlich erweitert werden", sagt der 33-Jährige. "Ich habe ja eine Vollzeitstelle und bin täglich da."

Klar müsse man es mögen, Archivar zu sein, sagt Kalleder und lächelt. Dass der Beruf staubig sei, habe er schon oft gehört. "Und da ist auch was dran", sagt er. "Aber ich mag die regionale bayerische Geschichte, weil man da einen Bezug hat und sieht, wo alles herkommt. Und das Schöne am Archiv ist, dass man so nah und direkt an die Dinge kommt wie sonst nirgends." In der Sammlung der Grafen habe er etwa einen rührenden Liebesbrief aus dem 19. Jahrhundert "mit Tränenflecken" gefunden, erzählt Kalleder. Und die Beschwerde eines Beamten aus dem 17. Jahrhundert über seinen Vorgesetzten, "die sich liest wie eine Wut-Mail von heute". Seine Begeisterung für alte Akten teilt er übrigens mit seiner Freundin, die auch Archivarin ist. "Wir haben uns im Hauptstaatsarchiv kennengelernt", sagt Kalleder - und räumt ein, dass zu Hause "viel gefachsimpelt" wird.

© SZ vom 21.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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