Jachenau:Ein besonderes Fleckchen Erde

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Auf einem Spaziergang durch die Jachenau: Der Pfundhof mit St. Nikolaus im Hintergrund. (Foto: Manfred Neubauer)

Friedlich und selbstbewusst leben die Jachenauer in den 28 Ortsteilen und 60 Hausnummern der kleinsten selbstverwalteten Gemeinde Bayerns. Ein Rundgang mit dem Ortschronisten.

Von Hannah Mosbach, Jachenau

Ein Schild grüßt nicht nur Gott sondern auch jeden, den es bis hierhin verschlagen hat: in die Jachenau. Wo das eigentliche Zentrum der kleinsten selbstverwalteten Gemeinde Bayerns liegt, vermag man gar nicht so leicht festzustellen. Sie erstreckt sich über 28 Ortsteile, Straßennamen sucht man hier vergeblich. Stattdessen tragen die Häuser und Höfe eigentümliche Nummern, etwa "sieben ein Drittel b" oder "sieben ein Zehntel". Den Postboten und auch die Jachenauer hat das noch nie verwundert: Schließlich steckt dahinter ein System.

Insgesamt 60 solcher Nummern gibt es in der Gemeinde. Die Nummern 1 und 2 wurden an die Höfe im Ortsteil Sachenbach vergeben, 3, 4 und 5 an die in Berg. 6, 7 und 8 findet man seit jeher im Dorf. Die 7, das weiß jeder, trägt hier der Pfundhof, die 8 schon immer der der Messners. Alle weiteren Nummern bis zur 33 wurden aufsteigend links der Jachen vergeben, auf der anderen Seite geht es wieder zurück bis zur 54 im Ortsteil Mühle. Die letzte Nummer, die 60, liegt weit außerhalb hinter den Bergen.

An den sechzig vergebenen Nummern lässt sich auch die Struktur der Gemeinde zeigen: Sechsunddreißig Höfe gibt es, und vierundzwanzig Sölden. Letztere sind kleine Häuser, die Tagelöhner und Handwerker bauen durften, um dort zu wohnen und auch ein paar Viecher zu halten. Wurden im Laufe der Zeit doch neue Anbauten zwischen die alten Höfe gesetzt, musste man nun an die bestehenden sechzig Nummern anknüpfen, um die Logik nicht zu stören. Und so kamen die gedrittelten und geviertelten Hausnummern hinzu. Auf die Spitze getrieben wurde dies mit "achtundvierzig ein Vierundzwanzigstel" im Ortsteil Setzplatz. Diese Hausnummer gibt es heute allerdings nicht mehr.

Hausnummer "sieben ein Zehntel" im Ortsteil Dorf. Straßennamen sucht man hier vergeblich. (Foto: Manfred Neubauer)

Vor dem Rathaus, es trägt die Adresse "sieben ein Drittel", steht ein älterer, braun gebrannter Herr und winkt mit seinen Wanderstöcken. Es ist Jost Gudelius, der die Jachenau so gut kennt wie kaum ein anderer. Und das, obwohl der ehemalige Soldat gebürtiger Westfale ist und somit für die Leute hier nach gängiger Vorstellung eigentlich ein "Saupreiß" sein müsste. "Was man nicht verdient, muss man sich erheiraten", sagt Gudelius, der über seine Frau in den beschaulichen Ort gekommen ist, und lächelt verschmitzt. Ausgerechnet er, der Zugezogene, hat dann die "Chronik Jachenau" geschrieben, die im vergangenen Jahr schon in die dritte Auflage ging. Dafür hat er sich nicht nur auf die Schriften seines Vorgängers Nar bezogen, sondern auch an die Türen der Jachenauer geklopft und sich alles genau erzählen lassen. Wer verpachtet gerade Land an wen? Gibt es wieder Enkelnachwuchs?

Jost Gudelius ist der selbst ernannte Chronist der Jachenau. (Foto: Manfred Neubauer)

Die Geschichten der dort seit Jahrhunderten lebenden Familien lassen sich genau nachverfolgen. Gudelius demonstriert dies auf dem Friedhof, der von einer Steinmauer umrandet zuseiten der spätbarocken Kirche St. Nikolaus auf einem kleinen Hügel liegt. Die alten Familiengräber werden immer noch gepflegt, frisch gepflanzte Blumen verraten, dass die Nachkommen immer noch hier wohnen und die Erinnerungen und Linien aufrecht erhalten. Es sind wenige Namen: Pfund, Messner, Oswald. Einen Vornamen gibt es jedoch häufig: Katharina. Das kommt von der besonderen Beziehung, die die Jachenauer stets zur gleichnamigen Heiligen pflegten.

Die Grabstätte der Familie Pfund, einer der einflussreichsten Familien der Jachenau. (Foto: Manfred Neubauer)

Gudelius schreitet den Schotterweg entlang zum Portal der Kirche und öffnet die kunstvoll geschnitzte Eichenholztür. Über eine enge Treppe, die bei jedem Tritt ein bisschen knarzt, gelangt man auf die Empore im Inneren. Hier oben tut sich im wahrsten Sinne des Wortes der Himmel vor einem auf: Die Decke ist mit pudrig-pastellfarbenen Fresken überzogen und erzählt vor dem Hintergrund barocker Wolkenträume Geschichten: wie Petrus den Himmelsschlüssel empfing, wie Saulus zum Paulus wurde, und auch von der Verbrennung der Zauberbücher. Gesäumt ist das luftige Kunstwerk mit einer salbeigrünen Stuckleiste, der Farbton nennt sich eigentlich "Benediktiner Grün" und wird aus Sandstein hergestellt. Die Bänke auf der Empore sind recht neu, früher hatten die Familien hier Stühle mit ihren Namen darauf. Im Zuge seiner Recherchearbeiten für die Chronik hat Gudelius den Familien ihre eigenen Stuhllehnen vorbei- und zurückgebracht, nachdem er sie vergessen und verstaubt auf dem Speicher gefunden hatte.

Die Decke in St. Nikolaus zeigt Fresken biblischer Geschichten. Eingerahmt wird sie von Stuck in "Benediktiner Grün". (Foto: Manfred Neubauer)

St. Nikolaus ist auch so etwas wie eine Allegorie der Jachenauer Wesensart. Der um 1700 entstandene herzförmige Anbau beherbergt heute den Altar, der fortan, statt wie in katholischen Kirchen üblich nach Osten, gen Westen zeigte. "Die Jachenau stellt sich quer zur allgemeinen Richtung", sagen die Einheimischen laut Gudelius mit einem Augenzwinkern.

Der Chronist schließt andächtig die hölzerne Tür und legt jetzt richtig los: Ob auch außerhalb des Ortes bekannt sei, dass die Jachenau früher Nazareth genannt wurde? Denn das Tal, erzählt Gudelius, wurde, bevor es ab dem Jahr 1180 besiedelt wurde, als in acereto bezeichnet. Das bedeutet "im Ahornwald", weil es dort so viele Ahornbäume gab. Hier und da stehen immer noch welche, doch hauptsächlich sind es Nadelbäume, in denen sich ringsherum der Blick verfängt.

Die Jachenauer haben immer schon von der Wald- und Forstwirtschaft sowie der Viehwirtschaft gelebt. Die Malereien an der Fassade des Mühlbauerhauses, der Nummer 50, lassen erahnen, wie das Leben damals ausgesehen haben mag: Starke Mannsbilder führen auf der Wand die Schritte der Holzwirtschaft vor: Nachdem die Stämme geschlagen waren, ließ man sie zunächst auf der Jachen triften, man machte sich die Kraft des Wassers zunutze und ließ die Bäume zur gewünschten Stelle treiben. Gefällt und anschließend gesteuert wurden die Stämme mit dem Sapie, einer Art Universalwerkzeug, das bei dieser keineswegs ungefährlichen Arbeit nicht fehlen durfte. Immer wieder kamen Trifter um, noch heute findet man in den Wäldern vereinzelt Marterl, die an die Verunglückten erinnern. Wo es auf dem Wasser nicht weiterging, wurden die massiven Hölzer von Rössern gezogen. Und Pferde hält auch heute noch fast jeder Hof. Das Jachenauer Holz war damals wie heute sehr gefragt und wurde unter anderem sogar im Wiener Stephansdom und in der Münchner Frauenkirche verbaut.

Die Fassade des Mühlbauerhauses zeigt die einzelnen Schritte der Holzwirtschaft. (Foto: Manfred Neubauer)

Damit die Waldbestände, von denen die Familien hauptsächlich lebten, nicht gänzlich dem gestiegenen Holzbedarf der Städte zum Opfer fielen, führten bayerische Herzöge ab dem 15. Jahrhundert sogenannte Holzordnungen ein und wiesen den einzelnen Höfen Nutzungsrechte daran zu, die allerdings jederzeit wieder hätten entzogen werden können. Bis ins Jahr 1983 bangten die Jachenauer immer wieder um ihre Rechte an den Wäldern, die im Zuge der Säkularisation um 1803 erstmals in Frage gestellt wurden. Heute ist die Eigentumsverteilung weitgehend geklärt, die Einwohner haben nun die Hoheit über ihre Waldflächen. Doch steht jetzt ein Umbruch in der traditionellen Wald-Familien-Zuteilung an, wie es ihn laut Gudelius seit 800 Jahren nicht gegeben hat: Die jungen Erben einer der Jachenauer Familien bieten gleich einen ganzen bewaldeten Berg samt weiterer Flächen von insgesamt 600 Hektar zum Verkauf an. Worüber keiner spricht: Kaufinteressenten wird es dabei wohl weniger um das darauf wachsende Holz als um die mit dem Erwerb einhergehenden Jagdrechte gehen.

Doch die Berge sind nicht nur eine scheinbar nie versiegende hölzerne Einnahmequelle. Sie sind auch ein Ort, an dem sich prima das Skifahren lernen lässt. Hinter dem Mühlbauerhaus steht seit Generationen ein kleiner Lift, dessen Fahrpreis sich fünfzig Jahre lang nicht erhöht, sondern nur den Wechsel von D-Mark zu Euro mitgemacht hat. Betrieben wird er vom Hanslbauern, der den Lift nicht des Geldes wegen betreibt, sondern weil er sich freut, dort die kommenden Generationen an Skifahrern heranwachsen zu sehen. Talente hat die Jachenau schon einige hervorgebracht: Elisabeth Willibald etwa wurde 2016 Juniorenweltmeisterin.

Wo Fuchs und Hase sich gute Nacht sagen: In der Jachenau lässt es sich ruhig leben. (Foto: Manfred Neubauer)

Die Kinder, die einst hier Ski fuhren, sind die Bäuerinnen und Bauern von heute, die mittlerweile die elterlichen Höfe übernommen haben. Ein bisschen was hat sich schon auch verändert - zum Beispiel findet die Feldarbeit, die früher von Hand von sogenannten Ehalten erledigt wurde, heute fast ausschließlich unter dem Einsatz moderner Maschinen statt. Damals wohnten die Mägde und Knechte mit auf den Höfen. Heute wohnen dort eigentlich nur noch die Familien selbst, manch eine teilt ihr Dach mit saisonalen Touristen. Die Gehöfte aber prägen weiterhin das Jachenauer Leben und seine Unabhängigkeit: Von den sechsunddreißig Höfen sind jedenfalls noch knapp über zwanzig als solche in Betrieb.

Während andernorts die jungen Leute wegziehen, hat sich die Einwohnerzahl in der Jachenau so gut wie nicht verändert. Das hat sicherlich mit dem intensiven Zusammenhalt der eingesessenen Familien und dem "Joachner Stolz" zu tun, den ihnen so schnell keiner nachmacht.

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Von Matthias Köpf (Text) und Sebastian Beck (Fotos)

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