SZ-Serie "Klingende Namen":Aus Böhmen kam die Musik

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Museumsleiterin Anita Zwicknagl demonstriert ein Ausstellungsstück, das fürs Publikum derzeit wegen Corona nicht greifbar ist: die Stimmgabeln (Foto: Hartmut Pöstges)

Im Geretsrieder Stadtmuseum beleuchtet eine Abteilung den Instrumentenbau. Leiterin Anita Zwicknagl sagt: "Den Egerländer Marsch kennen alle"

Von Felicitas Amler

Graslitz, tschechisch Kraslice, ist seit Jahrhunderten als Instrumentenbauer-Zentrum berühmt. Aus dem Städtchen im Egerland kamen nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten deutschen Vertriebenen nach Geretsried. Und da nicht wenige von ihnen Noten, Werkzeug und vor allem Wissen mitgebracht hatten, entwickelte sich auch die heute mit 26 000 Einwohnern größte Stadt im Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen zu einer Adresse für Musiker, die ein Instrument suchen.

Wie das mit Marschmusik eben so ist: Man bekommt sie kaum aus dem Kopf, der Rhythmus setzt sich unweigerlich fest. Umso mehr, wenn man ein und dasselbe Stück gleich mehrfach gehört hat, mal von einer Klarinette oder einer Tuba gespielt, mal von einem Bariton oder einem Flügelhorn, und zu guter Letzt von einer ganzen Blaskapelle. Das sind die Varianten, die das Geretsrieder Stadtmuseum in seiner Instrumentenbau-Abteilung vom Marsch "Grüße aus dem Egerland" anbietet. Auf Knopfdruck spielen die Instrumente auf. Im Schaukasten darüber sind sie in voller Pracht zu sehen.

Wie packend und gleichzeitig erinnerungsselig diese Musik ist, weiß Anita Zwicknagl zu erzählen. Die Volkskundlerin ist in der Stadt Geretsried für das Museum verantwortlich und hat schon viele Menschen durch das Haus geführt. Wenn es ehemalige Vertriebene sind, so sagt sie, dann seien die oft ergriffen von den Museumsabschnitten, die ihre eigene Geschichte wiedererwecken. "Und den Egerländer Marsch, den kennen alle." Leopold Wenzl hat ihn auf Grundlage von Volksliedern komponiert, viele Blaskapellen hatten und haben ihn im Repertoire, bis hin zu den Original Egerländer Musikanten des berühmten Ernst Mosch.

Neben Bariton, Tuba, Flügelhorn und Klarinette zeigt das Stadtmuseum auch Geige und Harfe. (Foto: Hartmut Pöstges)

Im Geretsrieder Museum ist es natürlich die Gartenberger Bunkerblasmusik unter Leitung von Roland Hammerschmied, die aufspielt. Die Kapelle weist schon im Namen auf beide Aspekte der Ortsgeschichte hin. Blasmusik als Mitbringsel der Gründermütter und -väter der Stadt aus ihrer ersten Heimat - und Bunker, die Relikte der NS-Rüstungsbetriebe, auf denen Geretsried aufgebaut wurde. Auch die Instrumentenbauer begannen ihre Produktion in diesen Gebäuden.

"Egerländer Arbeit und Fleiß", so ist auf der einen Seite der Instrumenten-Abteilung groß zu lesen, "Aus Böhmen kommt die Musik", heißt es auf der anderen. Der böhmisch-sächsische Musikwinkel sei bekannt für die jahrhundertealte Tradition der Musikinstrumentenherstellung, erläutert die Texttafel. "Durch die 1866 in Graslitz gegründete Musikfachschule werden Instrumentenmacher auch zu virtuosen Musikern ausgebildet." Graslitz habe bis zum Zweiten Weltkrieg neben qualitätvollen Instrumenten eine reiche Auswahl an Orchestern, Musikkapellen und Gesangsvereinen geboten.

Auch Noten gibt es zu sehen, die Vertriebene wie Karl Kugler senior noch aus der alten Heimat mitgebracht hatten. (Foto: Hartmut Pöstges)

Zwicknagl erklärt, Blech- und Holzblasinstrumentenmacher aus dem Sudetenland hätten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Geretsried, Waldkraiburg und Nauheim neu etabliert; die Hersteller von Zupf- und Streichinstrumenten überwiegend in Bubenreuth nördlich von Nürnberg. Dennoch sind auch im Geretsrieder Museum Zupf- und Streichinstrumente zu sehen. Der Geigenbau wird anhand von Einzelteilen erklärt. Und eine schöne Harfe verweist auf ein eigenes Kapitel der Geschichte - die "böhmischen Harfenmädchen". Wer Näheres darüber wissen möchte, erfährt es etwa im Egerland-Museum Marktredwitz. Dort ist von der im 18. Jahrhundert begonnenen Tradition der Wandermusikanten im böhmischen Erzgebirge die Rede. Im 19. Jahrhundert habe wegen des Niedergangs des Bergbaus bittere Not geherrscht. Junge Frauen seien daher auf Musik-Wanderschaft gegangen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. "Sie zogen oft alleine oder zu zweit los und spielten mit ihren Harfen dort, wo etwas zu verdienen war (...), auf Jahrmärkten, Hochzeiten und Kirchweihfesten, in Wirtshäusern und Biergärten."

Im Geretsrieder Museum zeigt ein Schaukasten schön verzierte abgegriffene Notenbüchlein für Horn, Tromba, Bass und Posaune. Viele Noten habe seinerzeit Karl Kugler senior aus dem westböhmischen Tachau (Tachov) mitgebracht, sagt Volkskundlerin Zwicknagl. Der Volksschullehrer war 1947 Gründer der Sing-, Spiel- und Tanzgruppe in Geretsried, aus welcher der Musikverein, die Chorvereinigung und die Eghalanda Gmoi z'Geretsried hervorgingen. Und auch wenn der Musikverein nicht mehr existiert und die Chorvereinigung nicht mehr auftritt - die Egerländer Gemeinde ist ohne musikalische Darbietungen gar nicht denkbar. Aus Böhmen kam die Musik, in Geretsried spielt sie weiter.

© SZ vom 26.08.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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