Junges Leben im Landkreis:"Bei diesem Job weiß man wirklich nie, was einen an der nächsten Ecke erwartet"

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Streetworker Patrick Schmook vor dem Jugendzentrum in Geretsried. (Foto: Hartmut Pöstges)

Patrick Schmook ist als Streetworker auf den Straßen Geretsrieds unterwegs und bietet dort niedrigschwellige Beratung für Jugendliche an. Auf seinen Schichten begegnet er verschiedensten Biografien und Problemen, die von versäumten Hausaufgaben bis zu Alltagsrassismus reichen.

Von Sophia Coper, Geretsried

Die Wasserpistolenschlacht hat plötzlich ihren Reiz verloren, Stuhlbeine scharren beim Ziehen über den Boden, immer dichter wird der Kreis an kleinen und großen Jungs in bunten Trainingsanzügen. An manchen Nacken läuft es noch nass herunter, auf Rache sinnt jedoch keiner mehr. Es ist ein Abend unter der Woche und am Karl-Lederer-Platz in Geretsried herrscht gebannte Stille.

"Glaubst du, irgendjemand nimmt unsere Bedürfnisse hier wirklich ernst?", sagt Alan ( Name von der Redaktion geändert), und die Bitterkeit in seiner Stimme wird das Gespräch über nicht verfliegen. Alan geht noch zur Schule, und dass der 18-Jährige jetzt vor der Filiale einer Sandwich-Kette sitzt, ist für ihn Teil des Problems. "In Geretsried kannst du als Jugendlicher nur gammeln. Hier gibt es nichts, was mich inspiriert. Soll ich mich auf die Straße kleben, damit sich mal jemand mit mir beschäftigt?", sagt er und die Ernsthaftigkeit seiner Aussagen wird durch das zustimmende Gelächter anderer junger Geretsrieder noch verstärkt.

Drei Stunden vorher hievt Patrick Schmook ein E-Bike aus dem Auto, knipst den quietschgrünen Fahrradhelm zu und muss selbst über seinen verantwortungsbewussten Aufzug schmunzeln. Der staatlich anerkannte Sozialpädagoge arbeitet seit 2020 für den Trägerverein Jugend- und Sozialarbeit Geretsried. Mit dem ersten Tritt in die Pedale beginnt seine Schicht als Streetworker auf den Straßen von Geretsried. Schmooks Tätigkeit lässt sich als niedrigschwellige Beratung für Jugendliche im öffentlichen Raum beschreiben — oder als "professionelles Chillen", wie es dem 26-Jährigen einmal lachend entweicht. Im Verlauf der nächsten Stunden werden sich beide Bezeichnungen als wahr entpuppen.

Der erste Stopp führt an die Isar. Versteckt auf einer kleinen Lichtung im Dickicht haben sich drei 15-Jährige ein Picknick einfallen lassen. Schmook kennt die Jugendlichen schon länger, hat ihnen bereits bei Problemen geholfen und ein Hinweis auf die gute Vertrauensbasis ist wohl, dass sie ihn extra angerufen und eingeladen haben. Die Jungs albern herum, erzählen aus ihrem Leben und sind sichtlich darauf erpicht, den Streetworker an allem teilhaben zu lassen. Dieser isst und lacht mit, macht aber auch immer wieder deutlich, wenn er Verhaltensweisen nicht gutheißt oder besorgniserregend findet.

Patrick Schmook bei der Arbeit. "Am Anfang dachten die meisten, ich sei ein Weirdo oder Zivilpolizist." Das habe sich mittlerweile gelegt. (Foto: Hartmut Pöstges)

"Jugendliche wollen Klarheit. Viele Geschichten erzählen sie mir, um zu sehen, wie ich reagiere", sagt Schmook später, als er sich schon von den Jungs verabschiedet hat und an der Isar eine Pause einlegt. Wichtig sei es dann, so der Streetworker, anstatt zu verurteilen, die Leute zum Nachdenken anzuregen: "Und immer so, dass sie am Ende selbst eine Entscheidung treffen. Ich möchte ihnen auf keinen Fall etwas einreden."

"Es hat eine Weile gedauert, bis die Jugendlichen mir vertraut haben"

Schmooks Arbeit geschieht nebenbei und doch nicht zufällig. Er hakt nach, wenn "Klienten und Klientinnen" wortkarg werden, fragt nach Zukunftsplänen, Konsumverhalten oder einfach nur, ob es in Mathe wieder besser laufe. Häufig knüpft er an bereits geführte Gesprächsstränge an. Den meisten, denen er auf dieser Schicht über den Weg läuft, ist er schon einmal begegnet. "Es hat eine Weile gedauert, bis die Jugendlichen mir vertraut haben. Am Anfang dachten die meisten, ich sei ein Weirdo oder Zivilpolizist." Das habe sich mittlerweile gelegt .

Nach drei Jahren regelmäßiger Fahrradtouren durch Geretsried weiß Schmook viele Antworten auf die Frage, was die Jugend von heute denn so beschäftige. "Vor allem sind es klassische Themen wie Eltern, Schule und Berufswahl", sagt der Streetworker. "Aber all das geschieht in einer komplexer gewordenen Welt." Immer mehr mögliche Lebensentwürfe und Identitäten bedeuteten im Umkehrschluss auch die Qual der Wahl: "Manche sehen den Wald vor lauten Bäumen nicht", so Schmook — anderen hingegen mangle es an Perspektiven. Zudem sei das heutige Erwachsenwerden eingerahmt von Bedrohungen wie dem Klimawandel. "Viele fragen nach dem Sinn ihrer Bemühungen, wenn am Ende eh alles den Bach runtergeht."

Immer mehr mögliche Lebensentwürfe und Identitäten bedeuten im Umkehrschluss auch die Qual der Wahl für junge Menschen: "Manche sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht", so Schmook. (Foto: Peter Endig/dpa)

Diese dystopische Einstellung mische sich mit dem Wegfallen traditioneller Wegweiser wie Religion und Rollenbilder. "Jugendarbeit kann das nicht ersetzen, aber eine wichtige Rolle erfüllen und Anhaltspunkte schaffen", sagt Schmook und pocht im gleichen Atemzug darauf, keine Vorbildfunktion einnehmen zu wollen. Er sehe sich eher als "Brückenbauer", als positive Bezugsperson, die Sorgen ernst nehme und Wege aufzeichne — manchmal bedeute das nur, den Laptop mitzubringen und gemeinsam an einer Bewerbung zu tüfteln.

Flugs noch ein paar vorbeiziehenden Isar-Rangern die Visitenkarte zugesteckt, den Helm wieder aufgesetzt und schon geht es für Schmook weiter zum Karl-Lederer-Platz. Anders als in der blickdichten Natur dreht sich hier alles ums Sehen und Gesehen werden. Kleine Grüppchen sitzen auf dem weitläufigen Gelände verteilt, der Streetworker grüßt hier und da und steuert die Wasserpistolenschlacht am Rande des Platzes an. Die ist im vollen Gange, die Teilnehmenden juchzen und schreien, daneben sitzen gelangweilt Alan und seine Freunde.

"In Geretsried gibt es für Jugendliche viel zu wenig Möglichkeiten"

Schmook kennt einen von ihnen und kommt schnell ins Gespräch, doch das Smalltalk-Geplänkel entwickelt sich rasch zu einer frustrierten Tirade. "In Geretsried gibt es für Jugendliche viel zu wenig Möglichkeiten. Alle sitzen hier nur rum, weil sie noch keinen Führerschein haben", konstatiert Alan mit Vehemenz, "wie soll man denn ohne Auto ins Kino gehen, wenn das nächste erst in Bad Tölz ist?"

Sein Arm schwenkt zu den zahlreichen Baustellen am Karl-Lederer-Platz: "Sobald dort Wohnungen entstehen, werden wir auch hier vertrieben." Er könne ja verstehen, dass die Leute ihre Ruhe haben wollen, aber warum müsse es immer auf die Kosten derer gehen, die keine Alternativen hätten? Die Runde nickt, mehr als ein Dutzend Haarschöpfe haben sich mittlerweile um ihn versammelt. "Außerdem begegnet uns täglich so viel Rassismus, es ist der Wahnsinn. Ständig werden wir von der Polizei angesprochen, weil wir dumm rumsitzen. Ja, was sollen wir denn sonst machen?", empört Alan sich. "Wir sind alle in Geretsried geboren und trotzdem benutzen manche Menschen Zeichensprache, weil sie davon ausgehen, dass wir kein Deutsch verstehen", ruft ein anderer Junge rein. Egal ob zehn oder 18 Jahre alt — jeder in der Gruppe hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Gefragt nach Lösungen zuckt Alan nur die Schultern. "Warum soll ich mir jetzt welche ausdenken, das ist doch nicht meine Aufgabe", sagt er und hat damit das letzte Wort.

Nachdem Alan plötzlich aufbricht und die Runde sich auflöst, ist Schmook tatsächlich etwas baff ob der leidenschaftlichen Rede. "Bei diesem Job weiß man wirklich nie, was einen an der nächsten Ecke erwartet", sagt er kopfschüttelnd und fängt sofort an das Gehörte einzuordnen: "Es gibt eben keine Bevölkerungsgruppe wie Jugendliche im öffentlichen Raum, die als so gefährlich angesehen werden und gleichzeitig so gefährdet sind."

Langsam sind die Straßenlaternen angegangen und Schmooks Schicht neigt sich dem Ende zu. "Klar, du kannst ein Jugendzentrum bauen, aber du erreichst eben nicht alle damit", sagt er auf dem Weg zurück, während die Dunkelheit hereinbricht. Doch wenn sie nicht von selbst kommen, komme er eben zu ihnen.

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