SZ-Adventskalender:Die Barrieren niederreißen

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Elli Wilfling kämpft dafür, dass Kinder mit und ohne Behinderung wirklich gemeinsam aufwachsen

Von Pia Ratzesberger, Geretsried

Am liebsten wäre es Elli Wilfling, wenn niemand mehr ihren Verein bräuchte. Sie blättert durch die Zeitungsartikel, aus den 80er-Jahren bis heute, so lange schon engagiert sich die Initiative zur Förderung der gemeinsamen Erziehung behinderter und nichtbehinderter Kinder im Landkreis. "Ganz schön viel hat sich verändert", sagt Wilfling und deutet auf eine Schlagzeile vom 29. Juni 1988: "Gemeinschaftliche Betreuung bald möglich."

Damals, drei Jahre nach der Gründung, hatte der Geretsrieder Verein zum ersten Mal erreicht, dass alle Kinder gemeinsam in einen Kindergarten gehen können - kein Ausschluss von Behinderten, keine getrennten Gruppen mehr. Am liebsten aber wäre es Wilfling, wenn es dafür keinen Verein bräuchte, sondern es alle als selbstverständlich erachteten, dass alle Menschen gemeinsam tätig sind.

Damals, in den 80ern, sei der Weg eines Kindes mit Handicap klar vorgezeichnet gewesen, sagt Wilfing: Sonderkindergarten, Sonderschule. Dann in die Behindertenwerkstatt. "Manche glauben ja heute immer noch, dass Behinderte am besten alleine gefördert werden, das stimmt so aber nicht", sagt Wilfling. Die untersten zwei Reihen im Schrank ihres Arbeitszimmers sind mit schweren Ordnern gefüllt, alle voller Vereinspapiere, Zeitungsartikel, Fotos. Wilfling ist im Vorstand, war vom ersten Jahr an mit dabei. Das Kind einer Freundin hatte Down-Syndrom, die Frauen brachten ihre Kinder zum Spielen zusammen, bemerkten irgendwann, dass es mehr braucht - dass Familien mit behinderten Kindern immer wieder gegen Barrieren stoßen, die man in einer Gruppe besser niederreißen kann als alleine.

Der Verein hat nicht nur erreicht, dass es eine erste integrative Spielgruppe im Kindergarten in Geretsried gab, dass das erste behinderte Kind auf eine örtliche Regelschule ging, bis zum Abitur. Sondern etwa auch, dass die integrative Sportgruppe mittlerweile fest zum Turn- und Sportverein Geretsried gehört. Das ist Wilfling am liebsten: Wenn die aus dem Verein initiierten Projekte in etablierten Organisationen aufgehen, wenn nichts mehr gesondert stattfindet, sondern mitten in der Gesellschaft.

Anfangs waren sie etwa zehn Leute, heute aber sind sie mehr als 100 Mitglieder. Die organisieren integrative Kinderbetreuung, Sporttreffs, Filmvorführungen und Sonntagsausflüge - damit die Teilnehmer einen möglichst geringen Betrag für solche Fahrten zu Kunstausstellungen oder Museen zahlen müssen, finanziert der Verein diese Touren aus Spenden.

Im vergangenen Jahr hat die Initiative zudem ein großes Theaterstück organisiert, für das Tollhausfestival in Tölz. Alle gemeinsam, die jungen Schauspieler waren damals so begeistert, dass sie eine Wiederholung forderten, wieder zurück auf die Bühne wollten. Im Januar kommenden Jahres beginnen die nächsten Proben. Die eigens dafür engagierte Regisseurin muss bezahlt werden, auch Requisiten und Kostüme braucht es. "Wir hoffen, dass wir das wieder auf die Beine kriegen", sagt Wilfling.

Elli Wilfling ist seit Jahrzehnten im Verein dabei. (Foto: Neubauer)

Noch nämlich hat der Verein viel zu tun, noch ist der Wunschzustand nicht erreicht. "Gerade ist es im Trend alle sozialen Projekte mit dem Label ,integrativ' zu versehen", sagt Wilfling und schüttelt den Kopf. Zwar nennten sich die Gruppen dann so, doch das Wort sei immer mehr zum Schmuck verkommen, ohne dahinterstehendes Konzept. Außerdem erlebt Wilfling noch immer, dass Familien mit einem behinderten Kind ihre Sozialleistungen von den Ämtern einklagen müssen, kämpfen müssen um jede Zuwendung. Solange sich das nicht ändert, wird Wilfling weiter arbeiten - die zwei Reihen Ordner im Schrank werden wohl schon bald nicht mehr ausreichen.

© SZ vom 28.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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