Diskussion in Bad Heilbrunn:Das Zeitalter der Gier

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Bei den Thementagen "Anthropozän" der Stiftung Nantesbuch nähern sich Wissenschaftler, Autoren und Künstler einem vielschichtigen Phänomen

Von Stephanie Schwaderer, Bad Heilbrunn

Das Stück Fleisch misst dreieinhalb Quadratmeter, drängt sich dem Betrachter regelrecht auf und sieht so aus, als sei es eben noch sehr lebendig gewesen. Zwischen blutroten Muskelfasern bilden drei dominante weißglänzende Fetteinlagerungen - zwei Kreise, eine Schräglinie - ein Prozentzeichen. Billiges Fleisch im Übermaß. "Würden Sie sich dieses Bild übers Bett hängen?", fragt Kurator Jörg Garbrecht in die Runde, die sich vor dem Gemälde versammelt hat. "Ich bräuchte den ganzen Tag einen Schnaps", antwortet eine Frau spontan. Das Bild, eine Auftragsarbeit der Kulturstiftung Nantesbuch, stammt von dem Freisinger Künstler Matthias Mross und hängt seit kurzem im Langen Haus auf Gut Karpfsee. Dort drehte sich drei Tage lang alles um das Thema "Anthropozän - Die Spur des Menschen".

Die Frage, wie der menschliche Hunger nach Fleisch die Erde verändert, ist nur ein Mosaikstein in dem hochaktuellen Themenfeld, das die Stiftung mit renommierten Wissenschaftlern, Autoren und Künstlern erkundet. Jeder Deutsche esse im Schnitt 60 Kilo Fleisch im Jahr, davon zehn Kilo Rindfleisch, erklärt Garbrecht, der zusammen mit Annette Kinitz die Thementage konzipiert hat. Seine These: Die "Menschenzeit" könne auch "Rinderzeit" genannt werden.

Anthropocene Working Group
:"Die Kraft ins Positive wenden"

Reinhold Leinfelder denkt als Geologe und Paläontologe in die Zukunft

Interview von Stephanie Schwaderer

"Ein erosiver Faktor"

Was es genau mit dem Begriff Anthropozän auf sich hat, erläutert der Paläontologe und Geologe Reinhold Leinfelder bei einem einleitenden Podiumsgespräch. Leinfelder ist Professor an der Freien Universität Berlin und Mitglied der Anthropocene Working Group, einer Arbeitsgruppe der Internationalen Geologischen Gesellschaft (IUGS). Die Wissenschaftler sind zu dem Ergebnis gekommen, dass das jüngste geologische Zeitalter, das Holozän, vor rund 70 Jahren sein Ende gefunden hat und vom Anthropozän abgelöst wurde.

"Der Mensch trägt Berge ab und schüttet neue auf, er legt Feuchtgebiete trocken und baut Stauseen", sagt Leinfelder, "er ist ein erosiver Faktor geworden." 30 Billionen Tonnen Material habe der Mensch mittlerweile der Erde entnommen und zu neuen Produkten verarbeitet. Sechzig Prozent des Plastiks, das seit den Fünfzigerjahren produziert wurde, befinde sich draußen in der Natur. "Wir können es in Regenwürmern nachweisen und in der Tiefsee." Verglichen mit der Nacheiszeit, in der der Mensch sesshaft wurde, habe sich das Erdsystem stark verändert. Die größte Herausforderung sei der Klimawandel.

"Wir suchen Bilder, um Gedanken und Ideen zu transportieren": Edward Burtynsky beim Künstlergespräch im Langen Haus. (Foto: Thomas Dashuber/oh)

Bilder, die den nüchternen Zahlen eine unmittelbare Wucht verleihen, präsentiert Edward Burtynsky den Gästen. Der kanadische Fotograf hat sich bei der Konzeption seines jüngsten Films "Anthropocene" an den Ergebnissen der IUGS-Arbeitsgruppe orientiert. Für seine Aufnahmen reiste er nach Sibirien und fing infernalische Szenen in einem Stahlwerk ein; er durchmaß Wüstenlandschaften, die der deutsche Braunkohle-Tagebau geschlagen hat, und wanderte durch Müllgebirge in Nairobi. Das Irritierende: Seine Bilder sind von grausamer Schönheit.

"Es wäre ein Leichtes gewesen, diese Orte in all ihrer Hässlichkeit zu zeigen", erläutert Burtynsky bei einem Künstlergespräch. Sein Ansatz liege darin, sie ästhetisch zu machen. Nur so könne er den Betrachter erreichen. Die Wissenschaft suche Beweise. "Wir suchen Bilder, die Gedanken transportieren."

Die große Frage, die bei den Thementagen immer wieder aufleuchtet: Wie lassen sich die Kräfte des Menschen transformieren? Wie könnte der Begriff Anthropozän positiv besetzt werden? Denkanstöße liefert nicht nur die Kunst. Etwa fünfzig Gäste unternehmen eine Exkursion ins renaturierte Haselbachtal, wo die Stiftung eine halbwilde Herde "Auerochsen" hält - eine Rückzüchtung der ausgerotteten Rinderrasse. Sie sind die Landschaftspfleger in den Auen. Schritt für Schritt wagen sich die majestätischen Tiere an die Zweibeiner heran, die durch ihr feuchtes Revier stapfen. Irgendwann zückt auch Burtynsky sein Handy. Und schießt ein Foto.

© SZ vom 22.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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