Borderline-Syndrom:Psychische Gratwanderungen

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Die Schlemmer-Klinik im Bad Tölzer Kurviertel hat eine eigene Station für Patienten, die an einer Borderline-Persönlichkeitsstörung leiden.

Von Klaus Schieder, Bad Tölz

Die S-Bahn fällt aus. Die Frau auf dem Bahnsteig denkt, dass sie jetzt zu spät zur Arbeit kommt, vermutlich wird ihr Chef ungehalten reagieren. In diesem Moment piepst das Handy. Ihr Freund sagt die für den Abend geplante Verabredung ab. Der Tag fängt ja gut an. Wer eine stabile Psyche hat, mag sich darüber ärgern, hakt dies aber unter den Widrigkeiten des Alltags ab. Die Frau leidet allerdings am Borderline-Syndrom: Sie bekommt Angst, die sich zu einer enormen Anspannung steigert - bis ins Unerträgliche. Sie nimmt ein Taschenmesser aus der Tasche und schneidet sich in die Haut. Nur so wird sie den hochgradigen Stress los.

Der ärztlicher Direktor der Schlemmer-Klinik in Bad Tölz, Markus Reicherzer. (Foto: Manfred Neubauer)

Für solche Patienten hat die CIP-Klinik Dr. Schlemmer im Tölzer Kurviertel eine eigene Station, wo ihre Krankheit mit der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) behandelt wird. Das Krankenhaus wurde jetzt nach den gestrengen Kriterien des deutschen Dachverbands DBT zertifiziert - als bislang einziges in Oberbayern. Acht Plätze für Borderline-Patienten hat die psychosomatische Akutklinik, die über insgesamt 129 Betten verfügt und im Schnitt zu 97,5 Prozent ausgelastet ist. Die meisten Klienten, die an dieser Persönlichkeitsstörung leiden, kommen aus München und der Region. Das Kernsymptom sei "eine einschießende hohe Anspannung, die als extrem anstrengend erlebt wird", sagt Dr. Markus Reicherzer, Ärztlicher Direktor der Schlemmer-Klinik. Die Patienten seien damit nicht in der Lage, eine Situation zu analysieren und ihre Gefühle zuzuordnen. Ein Beispiel: Einer von ihnen bekommt einen Anruf von seiner Mutter, die ihm mitteilt, dass sie nicht zu Besuch kommen könne. Andere Menschen nehmen dies hin, aber er glaubt, dass die Mama ihn nun nicht mehr liebe, er sei ganz alleine auf der Welt. Dies löst eine innere Hochspannung aus, die zu dysfunktionalem Verhalten führt: Er verletzt sich selbst, flüchtet in Alkohol oder Drogen, setzt sich ins Auto und rast über die Straßen. "Bei bestimmten Stimuli reagieren Borderline-Patienten mit hoher Intensität und brauchen sehr lange, bis sie von ihren Emotionen wieder herunterkommen", so Reicherzer.

Acht Menschen mit dem Borderline-Syndrom bietet die Schlemmer-Klinik in Bad Tölz Platz und Therapie (Foto: Manfred Neubauer)

Fast alle von ihnen haben nach Angaben der Ärztlichen Direktors, der Facharzt für Psychotherapie, Psychiatrie und Neurologe ist, eine "hochbelastete Biografie". Von dem Syndrom sind Männer und Frauen gleichermaßen betroffen, häufig haben sie Gewalt in ihrer Kindheit erfahren. "60 bis 70 Prozent der Frauen haben sexuelle Missbrauch erlebt, rechnet man körperliche Gewalt hinzu, sind es 80 Prozent." Das Syndrom tritt meist in der Pubertät oder im jungen Erwachsenenalter auf, wenn die Struktur der Schule und des Zuhauses wegfällt. Die Patienten können ihre Identität nicht finden. Sie haben ein niedriges Selbstwertgefühl und eine extreme Angst vor Zurückweisung. Typisch für sie: Der Mitmensch wird von ihnen idealisiert - oder im Gegenteil abgewertet. Das erfahren auch die Therapeuten selbst. "Sie sagen, endlich habe ich dich, du rettest mich, aber eine Stunde später heißt es, du bist der schlechteste Therapeut."

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Für Borderline-Patienten gibt es Reicherzer zufolge bisher oft nur unspezifische Behandlungsmethoden. Das ist an der Schlemmer-Klinik anders. Um die Zertifizierung zu bekommen, war eine jahrelange Vorarbeit nötig. "Das bedeutet einen enormen Aufwand und Kosten, viele Kliniken scheuen das", sagt der Ärztliche Direktor. Gefordert werden eigens ausgebildetes Personal, ein externer Supervisor, der einmal im Jahr alles nachprüft, genug Pflegekräfte sowie ein multimodulares Konzept. Das umfasst in Bad Tölz neben Einzeltherapien ein Fertigkeiten-Training, eine Basisgruppe, in der die Betroffenen über Borderline aufgeklärt werden, Kunsttherapie, Körpertherapie, eine Achtsamkeitsgruppe, Sozialberatung, Bewegungstherapie, Bezugspflege. Einmal pro Woche kommen die Ärzte zu einer Fallkonferenz zusammen, um sich über einzelne Patienten auszutauschen, einmal zu einer Intervision, um ihre Behandlungsweise zu hinterfragen. Auf der Station sind fünf Ärzte und Psychologen tätig. Alleine die Fachausbildung der Ärzte dauere zumindest zwei Jahre, sagt Reicherzer, der auch Leiter der CIP-Akademie München ist. In der Schlemmer-Klinik habe man den Vorteil, Theorie und Praxis aus einer Hand anbieten zu können. All dem Aufwand stellt er die primären Kosten für die Behandlung von Borderline-Patienten gegenüber, die er bundesweit auf 5,5 Milliarden Euro beziffert, die sekundären - etwa der Verlust an Arbeitskraft - betrügen nochmals 7,5 Milliarden.

Im Alltag ist der Umgang mit den Patienten nicht selten ein Balanceakt für die Therapeuten. Die Betroffenen sehnen sich nach einem Partner und glauben, "ohne ein mich liebendes Gegenüber löse ich mich auf", so Reicherzer. Sie suchen die Nähe zum anderen, auch zum Therapeuten. Andererseits kann es jeden Moment passieren, dass sie die Beziehung, vulgo die Behandlung abbrechen. "Ein oszillierendes Verhalten", sagt der Ärztliche Direktor. Medikamente, die helfen könnten, gibt es nicht. Normalerweise versuche man jemanden, der abbrechen wolle, aktiv wieder in die Therapie hereinzuholen, so Reicherzer. Bei Borderline-Patienten funktioniere das nicht. "Sie haben Angst vor zu viel Nähe, wenn ich ihnen nachlaufe, verstärke ich diese Angst - deshalb gehe ich eher weg, oft regelt das die Beziehung wieder ein." Und wenn sich jemand mit dem Messer selbst verletzt? Manchmal wird der Ausgang am Wochenende gestrichen. Allerdings nicht als Bestrafung, sondern als Angebot. "Wir fragen, hilft es dir, den Wochenendausgang zu streichen, damit du dich nicht mehr schneidest", erzählt Reicherzer. Die Therapie müsse sehr feinfühlig sein. So sensitiv wie die Patienten selbst. Manchmal hört er von einem den Satz: "Wenn du sehen würdest, wie ich wirklich bin, würdest du mich auch nicht mögen."

© SZ vom 07.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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