Tölzer Stadtweihnacht:"Eine unglaubliche Protestgeschichte"

Lesezeit: 6 min

Geschichtenerzählerin Ursula Weber (links) und Stadtversucherin Angelika Schmidt laden gemeinsam zur Tölzer Stadtweihnacht ein. (Foto: privat/oh)

Was hat die Tölzer Rose mit der Jungfrau Maria zu tun? Und was der Kalvarienberg mit den Hirten von Bethlehem? Geschichtenerzählerin Ursula Weber nimmt ihre Gäste auf einen ungewöhnlichen Weihnachtsweg mit.

Interview von Stephanie Schwaderer, Bad Tölz

SZ: Frau Weber, zwischen Bethlehem und Bad Tölz liegen einige Tausend Kilometer. Was verbindet die beiden Orte?

Ursula Weber: In unserem Fall die Weihnachtsgeschichte. Man könnte sagen, wir haben sie adoptiert. Eigentlich spielt sie vor etwa 2000 Jahren in Bethlehem und hat einen ganz anderen Kontext. Wir wären wahrscheinlich etwas schockiert, wenn wir dabei gewesen wären. Aber wenn wir die Tölzer Jahreskrippe anschauen, dann findet die Weihnachtsgeschichte hier bei uns statt. Und das ist eines der Mysterien und der Zauber dieser Geschichte: Jeder Mensch, der dafür offen ist, kann sie in seine Welt holen. Und darum geht es ja, dass wir uns nicht nur daran erinnern, was vielleicht vor 2000 Jahren geschehen sein könnte - es ist ja eine sehr legendenhafte Geschichte - sondern dass wir sie mit unserem Leben im Hier und Jetzt verbinden. Ganz verkürzt könnte man sagen, wenn das Licht, das Göttliche, in unser Leben kommt, ist die Jahreszahl gleichgültig.

Sie sind eine bekannte Märchenerzählerin. Darf man die Weihnachtsgeschichte da so einfach ins Programm einreihen?

Ich bin ja auch Religionspädagogin und bringe den theologischen Hintergrund mit. Vor allem aber bin ich überzeugt, dass biblische Geschichten nicht nur von Menschen aus einem kirchlichen Kontext erzählt werden dürfen. Das ist Gott sei Dank auch immer so gewesen. Die Menschen haben diese Geschichten für sich entdeckt und weitergegeben. In meinem Adventsprogramm erzähle ich zum Beispiel eine Weihnachtsgeschichte von Selma Lagerlöff, die ich unheimlich schön finde. Die Frage ist: Was heißt es, wenn das Göttliche unter uns geboren wird? Das lässt sich nicht mit dem Verstand erfassen. Als Geschichtenerzählerin habe ich den Vorteil, die theologische Sicht der Schriftdeutung mit jener der Herzensdeutung zu vereinen.

Herzensdeutung?

Während meines Studiums der Religionspädagogik ist mir klar geworden, dass man Geschichten, auch Märchen, auf ganz unterschiedlichen Ebenen hören kann. Ich kann sie als Erzählung hören oder einen geschichtlichen Horizont darin entdecken, ich kann sie aber auch auf Metaebenen hören und mich selbst darin finden. Die biblische Weihnachtsgeschichte gibt da sehr viel her, denn sie ist eigentlich eine unglaubliche Protestgeschichte. Und sie ist eine Skandalgeschichte.

Wo genau ist der Skandal?

Der verbirgt sich in vielen Facetten. Das erkennt man natürlich eher, wenn man die Hintergründe der Exegese kennt. Man geht heute davon aus, dass die Weihnachtsgeschichte zu einer Zeit entstanden ist, als sich immer mehr Anhänger um Jesus scharten, weil sich in ihm etwas ganz Besonderes zeigte. Eine besondere Beziehung zum Göttlichen. Man hat wohl gedacht: Dieser Mensch muss auch unter ganz besonderen Umständen zur Welt gekommen sein. In der Bibel findet sich ein vielfältiges Verständnis davon, was es heißt, der Messias, also Gottes Sohn, zu sein. Einige Evangelisten wären nie auf die Idee gekommen, Jesus als eine göttliche Zeugung zu sehen. Das ist eher die griechische Sicht, die auch für uns selbstverständlich geworden ist. Die ist aber auch spannend und bringt uns zum Skandal. Maria ist noch nicht einmal verheiratet und wird schwanger! Das war damals unfassbar. Dann geht sie zu Elisabeth, die eigentlich viel zu alt ist, ein Kind zu kriegen, und auch die ist schwanger! Deutlicher kann man es nicht zeigen: Gott setzt sich über jede Grenze hinweg. Er sprengt alle sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Grenzen. Das Göttliche kommt da zur Welt, wo man es nicht erwartet.

In einem Stall.

Vermutlich eher in einer Felsgrotte, Ställe aus Holz hat es damals kaum gegeben. Und dann kommt schon der nächste Hammer: Die ersten Zeugen der Geburt sind Hirten! Hirten waren damals die Outlaws, mit denen niemand etwas zu tun haben wollte. Die haben mit den Schafen gelebt, die haben gestunken, haben oft gestohlen, weil sie arm waren. Und nun sind sie die ersten, die zum neugeborenen König vorgelassen werden. Das wäre so, als würde man heute als erstes die Landstreicher und Obdachlosen ins Königshaus einlassen.

Geschichte oder Legende? Die Krippe in der Heilig-Kreuz-Kirche am Tölzer Kalvarienberg ist besonders prächtig. (Foto: privat/oh)

Ein interessanter Gedanke. Wie bringen Sie all dies mit der Tölzer Stadtgeschichte zusammen?

Da haben Angi Schmidt und ich uns für eine lockere Verbindung entschieden, weil die biblische Geschichte so spannend ist und Tölz so viele wundervolle Aspekte hat, an die man anknüpfen kann. Wir starten am Rosengarten und flechten zum Beispiel die Geschichte der Tölzer Rose mit ein - die Rose ist ja ein Bild für Maria. So verbinden wir ein Stück Stadtgeschichte mit der Verkündigungsgeschichte. Oder wir schauen vom Kalvarienberg hinab auf die Stadt. Das ist ein toller Ort, um die Geschichte der Hirten einmal ein bisschen anders zu erzählen. Eben weil wir außerhalb der Stadt stehen. Das wird bei den Drei Weisen, die später als Könige tituliert wurden, noch deutlicher. Sie finden den Messias nicht im Palast, sondern in einer erbärmlichen Behausung vor. Und dort verbeugt sich die Wissenschaft vor einem Neugeborenen! Unfassbar! Wenn ich unsere Universitäten und manche Professoren sehe, mit welchem Standesdünkel die unterwegs sind, dann denke ich: Ja, wer das Mysterium des Lebens und des Göttlichen erfassen will, der muss sich nach unten begeben. Auf einem Thron wird er es nicht finden.

"Ein toller Ort, um die Geschichte der Hirten einmal ein bisschen anders zu erzählen": Blick vom Kalvarienberg. (Foto: privat/oh)

Welche Stationen steuern Sie noch an?

Einige Glaubensorte, darunter auch die Stadtpfarrkirche. Zugleich wollen wir das locker und spannend mit etwas Tölzer Stadtgeschichte verbinden. Das ist das Gebiet von Angi Schmidt. Man entdeckt die Heimat wieder ein bisschen neu und bewegt sich zugleich in anderen Horizonten. Die Weihnachtsgeschichte darf ja immer neu interpretiert werden. Bei einer Studienreise habe ich in Israel eine außergewöhnliche Kirche besucht. Es gab dort mehr als 20 Seitenaltäre, und jede Kultur, jeder Kontinent hatte sein eigenes Jesusbild. Ich sah einen japanischen Jesus und einen schwarzafrikanischen, und mir ist klar geworden: Wer eine Glaubensverbindung aufnehmen will, der muss die Geschichte in seinem Kontext interpretieren. Sonst bleibt sie fremd. Man darf nur nicht den Fehler machen, die eigene Interpretation für die einzig wahre zu halten.

Erzählen Sie auf Ihrer Tour auch Geschichten aus anderen Kulturen? Oder woraus schöpfen Sie?

Bei der Stadtweihnacht halte ich mich tatsächlich an die biblische Weihnachtsgeschichte und versuche, sie mit all ihren Hintergründen lebendig werden zu lassen. Angi Schmidt und ich haben uns gefragt: Wann hört man sie eigentlich noch? Wenn man nicht in den Gottesdienst oder zu einer Ludwig-Thoma-Lesung geht, hört man sie fast nicht mehr. Ich glaube, da geht gerade ein Kulturgut verloren. Deshalb wagen wir den Spagat zwischen damals in einem anderen Land und heute hier in Tölz.

In Tölz sind gerade auch viele Mütter mit Kindern auf Herbergssuche. Scheinen die aktuellen politischen Krisen bei Ihrem Weihnachtsspaziergang auch auf?

Sicher. Wenn ich bislang versucht habe, die Geschichte in ihrem historischen Kontext zu erzählen, dann habe ich immer mit den Römern begonnen. Sie führten damals eine harte Herrschaft in Israel. Der Krieg war übers Land gekommen. Die Volkszählung kam nicht von ungefähr. Den Menschen wurden Steuern abgepresst, viele haben all ihr Hab und Gut verloren. Sie mussten ihre Kinder als Sklaven verkaufen, um überleben zu können. Heuer bin ich mir noch nicht sicher, wie ich einsteigen werde. Ich möchte nicht, dass alle nur noch die aktuellen Nachrichtenbilder im Kopf haben. Das wäre nicht gut. Aber zugleich muss klar sein: Es geht hier nicht um eine nette Kindergeschichte. Es geht um eine Geschichte, die aus dem Leben kommt und uns herausfordert.

Wozu herausfordert?

Hinzuschauen. Einen wahrnehmenden Blick auf die Welt zu werfen. Und zugleich Ruhe zu bewahren. Das ist ja ein Problem unserer Zeit, dass wir fast überflutet werden mit Informationen und Bildern, wenn wir nicht aufpassen. Das halte ich nicht für hilfreich. Das lähmt sehr schnell.

Mit welchem Gefühl oder Gedanken sollen Ihre Gäste die Stadtweihnacht verlassen?

Vor einem Jahr haben wir sie schon einmal anbieten können. Und ich hoffe, dass es heuer wieder so sein wird: Dass man mit einem warmen Gefühl im Herzen nach Hause geht. Mit einer Zuversicht und einer Ermutigung all dem gegenüber, was das Leben uns an Herausforderungen und auch Krisen bietet. Dass wir wissen, dass wir trotz allem geleitet und geführt sind.

Viele Lichter machen Weihnachtsmärkte gemütlich. Viele Städte setzen inzwischen auf LED-Beleuchtung, um möglichst wenig Strom zu verbrauchen. (Foto: Manfred Neubauer)

Und Martin Regnat spielt dazu die Ziach?

Genau, das gibt der Sache noch einmal einen festlicheren und innigeren Rahmen. Vor einem Jahr standen wir am Schluss auf der Marktstraße unter einem Hirtenbild beim Marienbrunnen, zu dem es auch eine ganz spannende Geschichte gibt. Martin Regnat hat gespielt. Und wir wurden auf einmal immer mehr und mehr! Musik berührt noch einmal auf eine ganz andere Weise. Ich glaube, dass das ein Thema unserer Zeit ist, das Berührtwerden. Die Menschen ersehnen es sich - und sind fast schon ungeübt darin. Das Schöne an diesen Spaziergängen ist, dass jeder die Nähe suchen und zulassen kann, die ihm gerade gut tut. Angi Schmidt und ich reden oft darüber. Und wir sind uns einig. Dem Licht im Herzen wieder neue Kraft zu geben - das wäre unser Wunsch.

Tölzer Stadtweihnacht, 26., 27., 29. und 30. Dezember, jeweils 16 bis 18 Uhr; Treffpunkt am Max-Höfler-Platz; Kostenbeitrag 12 Euro, mit Gästekarte und für Kinder 10 Euro; Anmeldung bei der Tourist-Info unter 08041 78670

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Brauchtum im Advent
:Auf dem Krippenweg durch Bad Tölz

Die Weihnachtsdarstellungen in den Schaufenstern wurden als Ersatz für den coronabedingten Ausfall des Christkindlmarkt eingeführt. Bei Händlern und in der Bevölkerung kam das Angebot so gut an, dass es nun mit noch mehr Krippen fortgesetzt wird.

Von Klaus Schieder

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: