Diesem Selbstporträt kann sich keiner entziehen. Und das liegt nicht nur an seiner Größe (zwei auf 1,2 Meter). Der Maler hat sich gnadenlos an den vorderen Bildrand gezoomt und einen ausgesucht unvorteilhaften Moment eingefangen: Sein Blick über der dicken Nase ist verkniffen, der Mund wie im Schlaf halb geöffnet. Träge sieht er aus, dümmlich. Zugleich ist das Ganze so spektakulär in Farbe gefasst, dass der Anblick von Nah und Fern eine Freude ist. "Selbst 27. 8. 1997" hat Johannes Grützke dieses Ölgemälde genannt. Es ist Teil der gelungenen Sonderausstellung "Werdet wie ich: Johannes Grützke!", die von Freitag, 9. März, an im Museum Penzberg - Sammlung Campendonk zu sehen ist.
Werdet wie ich. Wie war er denn, dieser Grützke? Dieser Frage darf sich der Besucher auf drei Etagen lustvoll hingeben - ohne auf eine eindeutige Antwort zu kommen. Vor einem Jahr ist Grützke gestorben. Seine Arbeiten sind quicklebendig, vielschichtig und dürften auch jugendliche Selfie-Profis ansprechen. Denn der Berliner war ein Meister der Selbstinszenierung und der Selbstbefragung. Dabei erging er sich nicht in Eitelkeit, sondern erkundete sich als Vertreter des Volkes und Exemplar der Gattung Mensch. Schonungslos und radikal subjektiv.
In Penzberg begegnet Grützke dem Betrachter mal skeptisch, mal hochnäsig, mal mit verdrehtem Hals, mal nur bis zur Nasenwurzel. Zugleich behauptete der Künstler, nie ein Selbstporträt angefertigt zu haben - einer von vielen anregenden Widersprüchen, auf die Kuratorin Freia Oliv bei dieser Schau abhebt.
Oliv ist seit Januar Leiterin des renommierten kleinen Museums, das maßgeblich von ihrer Vorgängerin Gisela Geiger geprägt wurde. Geiger steht ihr noch bis Oktober beratend zur Seite. Mit der Grützke-Schau haben die beiden Frauen bewiesen, dass sie hocheffektiv zusammenarbeiten und überraschende Akzente setzen können. In gerade einmal zwei Monaten stellten sie eine Schau auf die Beine, die wieder überregionales Interesse erwecken dürfte. Geiger hatte schon vor Jahren Kontakte zu Grützke geknüpft, den sie als "offen und fordernd" beschreibt. Ihre Nachfolgerin war es, die Anfang Januar den Koffer packte und nach Essen reiste, wo sie in diversen Depots der Galerie Klaus Kiefer nach Herzenslust stöbern durfte.
Mehr als 60 Arbeiten hat sie ausgewählt und nach Penzberg geholt, Ölbilder (Erdgeschoss), leuchtende Pastelle (1. Stock) und feine Grafikzyklen (Obergeschoss). Die Texte zu den Exponaten befinden sich jeweils im Gang, wobei Oliv auf kunsthistorische Belehrungen verzichtet und lieber Grützke zu Wort kommen lässt. In den Ausstellungsräumen regieren allein die Bilder. Und das ist gut. So viel Wucht, so viel nackte Existenz war selten in dem einstigen Bergarbeiterhäuschen zu erleben wie nun im großen Saal.
Dort buhlen gleich mehrere monumentale Meisterwerke um Aufmerksamkeit, darunter das Ölgemälde "Authentizität - Realität - Idealität - Demut". Es zeigt ein groteskes Massaker, bei dem sich vier halb nackte Männer gegenseitig abstechen. Allein der Mann, der unter dem Schriftzug Demut mit dem Rücken zum Betrachter steht, könnte mit dem Leben davonkommen.
Grützke, Mitbegründer der "Schule der Neuen Prächtigkeit", bekannte sich zur gegenständlichen Malerei, als Joseph Beuys den Kunstbegriff revolutionierte. "Kunst ist nicht modern, sondern immer", lautete seine (nicht minder revolutionäre) Devise. Als Beweis könnte das Gemälde "Himmel und Hölle" herhalten: Im historisierenden Stil zitiert Grützke da eine Pieta von Giovanni Bellini; zugleich weckt er ganz neue Assoziationen und wirft Fragen auf, zum Beispiel: Wem gehört der rote Damenschuh? Kunstkenner dürften bei dieser Schau ebenso auf ihre Kosten kommen wie Leute, die Freude an der Ironie, an der Reflexion und am Rätselraten haben.
Alle Infos unter www.museum-penzberg.de