Leben im besetzten München:Radfahren nur mit schriftlicher Erlaubnis

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"MG" steht für "Military Government": Deutsche Hilfspolizisten bewachen den Sitz der amerikanischen Militärregierung im Neuen Rathaus. (Foto: SZ-Photo)

Die US-Militärregierung erlässt für die Münchner strenge Regeln, die aber schon bald wieder gelockert werden.

Von Ricarda Richter, Jakob Wetzel

Die erste neue Vorschrift tritt bereits am 1. Mai 1945 in Kraft: Die US-amerikanische Militärregierung verfügt eine nächtliche Ausgangssperre. Zwischen 19 Uhr am Abend und 6 Uhr morgens dürfen sich keine Zivilistin und kein Zivilist mehr auf öffentlichen Straßen und Plätzen aufhalten, nicht einmal der eigene Vorgarten ist noch erlaubt.

Will jemand die Stadt verlassen, braucht er ab sofort eine schriftliche Erlaubnis der Besatzer. Für das Fahren mit Auto, Motorrad oder Fahrrad gilt dasselbe. Wer gegen diese Bestimmungen verstößt, wird festgenommen, muss eine Geldbuße bezahlen oder ins Gefängnis.

Der Mai 1945 bringt den Münchnern viele neue Regeln. Die Amerikaner sind in der Stadt, das Nazi-Regime ist entmachtet, der Krieg ist für diese Stadt vorüber. Auch die bisherigen Strukturen sind verschwunden. Doch die Amerikaner füllen das Vakuum rasch: Der Alltag folgt jetzt anderen Gesetzen, nämlich ihren.

Es bleibt nicht bei der Ausgangssperre. Wenige Wochen später lösen die Amerikaner das Verkehrsproblem in der Stadt auf ihre Weise und in ausschließlich ihrem Sinne: Am 18. Mai legen sie fest, dass vom Isartor durch das Tal und die heutige Fußgängerzone bis zum Stachus und weiter zum Bahnhof nur noch amerikanische Fahrzeuge fahren dürfen.

Dieselbe Vorschrift erlassen die Besatzer für mehrere Straßen in Neuhausen und Nymphenburg, später kommt noch die Arnulfstraße hinzu. Mehrsprachige Schilder weisen auf diese Regel hin. Ab sofort führt quer durch die Stadt eine Schneise, auf der sich die Besatzer ungestört bewegen können. Die Anwohner müssen wegbleiben, deutsche Zivilisten, die das missachten, werden bestraft, ihre Fahrzeuge werden beschlagnahmt.

Doch auch den eigenen Soldaten erlegt die Militärregierung strikte Regeln auf. Dass sie sich nicht mit den Deutschen verbrüdern sollen, ist ihnen grundsätzlich bekannt. Schon im "Pocket Guide to Germany", herausgegeben vom US-Kriegsministerium, mit dem viele der Soldaten ab 1944 nach Europa gekommen sind, ist ihnen eingebläut worden, wachsam zu bleiben, besonders den jüngeren Deutschen zu misstrauen und Abstand zu wahren.

Auch Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte im Westen Europas, hat die Fraternisierung explizit verboten. Den amerikanischen Soldaten ist untersagt, Kontakt mit der Münchner Bevölkerung aufzunehmen. Sogar das Grüßen unterliegt bald strengen Regeln. Ein Erlass der Militärregierung vom 16. Juni legt fest: Ein "Grußwechsel zwischen deutschen Zivilpersonen und alliierten Soldaten findet nicht statt"; so zitiert es die vom Stadtarchiv herausgegebene Chronik der Stadt München 1945-1948. In der Praxis ist es noch etwas komplizierter: Deutsches Militär habe alliierte Soldaten zu grüßen, nicht aber andersherum, heißt es etwa. Deutsche Männer wiederum müssten vor den Flaggen der Alliierten zum Gruß ihre Kopfbedeckungen abnehmen.

Auch Deutschen Geschenke zu machen ist untersagt - und für die Beschenkten gefährlich. Werden deutsche Zivilisten mit Eigentum amerikanischer Soldaten erwischt, werden sie bestraft. In den kommenden Wochen aber drücken Offiziere der US-Armee immer öfter ein Auge zu, wenn sich GIs deutschen Frauen annähern oder eine Schachtel Zigaretten gegen einen goldenen Ring eintauschen. Kindern stecken die Soldaten Schokolade und Kekse zu, Freundschaften entstehen, Fraternisierungsverbot hin oder her.

Überhaupt folgen bald erste Schritte hin zu einer neuen Normalität. Bereits am 1. Mai haben die Amerikaner den Verleger und Anwalt Franz Stadelmayer zum neuen Oberbürgermeister ernannt. Drei Tage später übernimmt diese Position auf Stadelmayers Wunsch Karl Scharnagl, der Vorkriegs-OB, den die Nazis 1933 aus dem Amt gejagt hatten.

Am 12. Mai etablieren die Amerikaner einen neuen, lokalen Sender "Radio München", der nicht nur Informationen über die Lebensmittelzuteilung verbreitet, sondern auch bekannt gibt: "Mit dem heutigen Tag wird die Verdunkelung in Stadt und Land aufgehoben." Nach 2077 zum Schutz vor Luftangriffen finsteren Nächten leuchten an jenem Abend erstmals wieder die Straßenlaternen. Eine Woche später publiziert die Militärregierung mit der Bayerischen Landeszeitung auch eine Zeitung.

Und die Regeln werden nach und nach gelockert. Vom 10. Mai an etwa dürfen die Münchner wieder Radfahren, ohne vorher die Besatzer um deren schriftliche Erlaubnis zu bitten. Am 25. Mai wird die Ausgangssperre reduziert, sie gilt nur noch in der Zeit von 21 Uhr bis 6 Uhr. Anfang Juli fahren in München wieder Trambahnen, die ersten vom Sendlinger Tor über den Stachus bis zur Hohenzollernstraße. Und vom 14. Juni an dürfen sich die Münchner bis zu 20 Kilometer weit von ihrem Wohnort entfernen. Ohne Passierschein.

© SZ vom 02.05.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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