Urteil gegen Klinik:Gefährliche Routine

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Weil sie vor sieben Jahren nach einem Sturz beim Seilspringen nicht richtig behandelt wurde, ist eine heute 17-Jährige schwer beeinträchtigt. Jetzt muss die Klinik Schadensersatz zahlen.

E. Müller-Jentsch

Einem zehnjährigen Mädchen wird es beim Seilhüpfen etwas schummrig. Niemand ahnte in diesem Moment, dass bereits ein dramatischer Countdown um die Gesundheit des Kindes zu ticken begonnen hatte.

Das Landgericht München I hat die Klinik verurteilt, da ein grober Behandlungsfehler vorliegt. (Foto: Foto: dpa)

Doch verloren hat die junge Münchnerin den Kampf um ihre Gesundheit in einem Krankenhaus: Die Ärzte dort hatten den Ernst der Lage zwar durchaus erkannt, dann aber offenbar einer schleppenden Alltagsroutine freien Lauf gelassen.

Und so war kostbare Zeit verronnen - obwohl es buchstäblich auf jede Minuten angekommen wäre. Dies ist ein grober Behandlungsfehler, urteilte nun das Landgericht München I und verurteilte die Klinik zur Zahlung von 120.000 Euro Schadensersatz.

Das Mädchen ging 2004 nach der Schule in ein Studienseminar, wo es bei seinen Hausaufgaben betreut wurde und auch die Freizeit verbrachte. Mittags, beim Seilspringen in der Eingangshalle, fühlte sich das Kind plötzlich ungut. Erst rief es mit dem Handy die Mutter an und wandte sich dann an die Aufsicht.

Die Kleine wurde im Erste-Hilfe-Zimmer hingelegt, dann telefonierte der Seminarleiter mit der Mutter. Diese erzählte, dass ihre Tochter am Vortag vom Augenarzt pupillenerweiternde Tropfen bekommen habe. Man machte sich also erst einmal keine großen Sorgen.

Als das Mädchen um 13.31 Uhr urplötzliche in Zuckungen verfiel und sich der Herzschlag beängstigend verlangsamte, wurde der Notarzt gerufen. Die Notfallmedizinerin gab dem Kind entsprechende Medikamente und ließ es in ein konfessionelles Krankenhaus bringen.

Der gerichtlich beauftragte Gutachter, ein Neuropädiater der Uni Münster, erklärte später den Richtern der Arzthaftungskammer sein Unverständnis darüber, dass es nach der Einlieferung des Kindes um 14.25 Uhr bis 15.18 Uhr gedauert habe, um eine Computertomografie durchzuführen.

Die neurologische Symptomatik sei den Ärzten doch schon bei der Aufnahme bewusst gewesen: Denn die Kombination von Streckkrämpfen, reduzierter Herztätigkeit, Bewusstlosigkeit und einer fehlenden Reaktion auf Schmerzreize seien höchste Alarmsignale gewesen. Und wenn es um eine Gehirn-Problematik gehe, wie hier bei Verdacht auf Schlaganfall, laute weltweit der medizinische Grundsatz "Time is brain".

Die Ärzte seien damals nicht mit der erforderlichen Zügigkeit vorgegangen worden, sagte deshalb nun auch das Gericht. Bei einem derartigen Notfall hätten sie sich von der Röntgenabteilung weder telefonisch auf einen späteren Zeitpunkt zur Frage vertrösten lassen dürfen, wann das CT frei sei, noch hätten sie dann weitere zehn Minuten warten dürfen, bis dort das Telefon mal nicht mehr besetzt war.

Auch sei zu viel Zeit vergangen, um Sauerstoff, Notfallkoffer, Notfallmedikamente sowie einen Transportmonitor herbeizuschaffen. Derartige Geräte müssen auf einer Intensivstation griffbereit zur Verfügung stehen, erklärte der Gutachter dem Gericht. Zudem hätte man einen Notarztwagen bereits anfordern müssen, als klar gewesen sei, dass die Patientin in die Neurochirurgie eines großen Klinikums gebracht werden müsse.

Die heute 17-jährige Schülerin leidet unter Gehstörungen, hat Schwierigkeiten bei Greifen und ist in ihrem linken Gesichtsfeld stark eingeschränkt. "Das Gericht hat aber die Hoffnung, dass diese ehrgeizige sowie sympathische und begabte Person in der Lage sein wird, ihr künftiges Leben trotz ihrer Beeinträchtigungen erfolgreich zu gestalten, so dass die verbliebenen Dauerfolgen im Vergleich zu anderen Fällen ähnlicher Schädigung glücklicherweise nicht so schwerwiegend sind", heißt es in dem Urteil.

Die Kammer hatte zuvor einen Teil der Klage abgewiesen. Die Eltern hatten im Namen ihrer Tochter nämlich sowohl das Studienseminar als auch die Klink verklagt und 400.000 Euro Schmerzensgeld sowie eine monatliche Rente von 1500 Euro gefordert. Das Gericht hält jedoch 120.000 Euro, zu zahlen durch das Krankenhaus, für ausreichend. Ansprüche für eine Rente sah die Kammer nicht.

Das Personal des mitbeklagten Studienseminars wurde durch das Gericht von den erhobenen Vorwürfen freigesprochen. Die Aufsicht hätte keineswegs das Seilspringen auf Betonboden verbieten müssen, so wie die Eltern gemeint hatten.

Solche Spiele seien bei Kindern zum Training des Sozialverhaltens, der Motorik, des Herz und Kreislaufsystem, sowie für einen mentalen Ausgleich zum vormittäglichen Schulunterricht notwendig, sagte das Gericht. Auch die von der Aufsicht gerufene Notärztin habe fachgerecht gehandelt (Az.:9O23466/06).

Ob die Eltern oder die verurteilte Klinik Berufung gegen das Urteil einlegen, ist noch offen.

© SZ vom 08.05.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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