Typisch deutsch:Die Auflösung der Utopie

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Manches alte Auto ist viel wert. (Foto: Sebastian Gabriel)

Als unser Autor nach Deutschland kam, festigte sich ein erster Eindruck: Kein Bayer beißt mehr von der Wurst ab, als er kauen kann. Doch seine Wahrnehmung änderte sich.

Kolumne von Olaleye Akintola

Meine Ankunft in Bayern war geprägt von der Vorstellung eines Landes der Gleichheit und Gerechtigkeit. Was ich über dieses Land gehört hatte, kam mir durchaus illusorisch vor. Wie eine reale Utopie, die ich nun auf die Probe stellte. Und tatsächlich: Ich begegnete verschiedenen Spezies und Typen, die allesamt relativ unprätentiöse Menschen zu sein schienen. Sie produzieren die besten Autos der Welt, bewegen sich aber mit dem Fahrrad oder in Zügen durch die Städte?

Trotz des offensichtlichen Wohlstands in der Region um München, wohnen manche nur in kleinen Appartements ohne Garage. Meine Güte, dachte ich mir, wie viele hier mit Uralt-Autos unterwegs sind. Sie konservieren Ressourcen, sammeln Plastik in einem Beutel, um es wiederzuverwenden. Und leere Getränkeflaschen stecken sie artig in einen Automaten. Welch sparsames Völkchen diese Bayern doch sind.

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Die Menschen, mit denen ich Kontakt hatte, waren in meinen Augen auffällig uneitel. Ihre Garderobe von schlichtem Stil, eher funktionell. Manche tragen ihre Hosen und Schuhe gar mehrere Tage hintereinander. Sogar Politiker wirkten auf mich nicht so, wie ich es kannte. Nicht extravagant und abgehoben, eher wie jemand, der sich wie alle anderen in die Supermarktschlange einreiht. Einen von ihnen besuchte ich einst in seinem Büro. Er trug Jeans und Pullover. Mein Eindruck damals: Kein Bayer beißt mehr von der Bratwurst ab, als er kauen kann.

Fünf Jahre floss seither das Wasser die Isar runter, und so änderte sich vieles in meinem Leben und in meiner Wahrnehmung. Mein Bayern aus dem Jahr 2015 erscheint mir heute wie ein Nimmerland. Der Mann, der "nur" Jeans und Pulli trägt, ist nicht selten mit Ware bekleidet, so teuer, dass man sich von dem Geld einen ganzen Kleiderschrank kaufen könnte. Das uralte Auto entpuppt sich bei genauem Hinsehen oft als Vintage-Modell, also eher Oldtimer, keine Rostlaube. Die kleinen Apartments kosten verhältnismäßig oft am meisten. Und die dort wohnen, richten sich nicht selten mit edlem Mobiliar ein. Man muss nur mit den Fingern schnippen und der Fernseher geht an. Das Bayernland ist keine real gewordene Utopie. Die Utopie bleibt Fiktion.

Mit der Zeit bekommt man einen Blick dafür. Man erkennt den Manschettenknopf, der so teuer ist wie ein Smartphone. Oder Frauen, die den Wert einer Eigentumswohnung um den Hals hängen haben. Andere sind weniger durchschaubar. Bei manchen kann man nur spekulieren, ob sie ihren Reichtum tarnen. Bei anderen besteht die Möglichkeit, dass sie ihn eher vorgeben. Manche sind reich, andere wollen reich aussehen. Und wieder anderen ist das herzlich egal.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

© SZ vom 24.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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