Typisch deutsch:Bussi-Muffel haben es in München schwer

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Die Umarmung gilt hierzulande als typische Begrüßung. (Foto: Kelly Sikkema / Unsplash)

Unser Autor findet das Küssen und Herzen zur Begrüßung noch immer befremdlich - kein Nachteil in Zeiten des Social Distancing.

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Ein Tabu meiner Kindheit waren Sendungen, in denen sich die Schauspieler umarmten oder küssten. Aus den Haushalten meiner Nachbarschaft waren Filme aus den USA oder Europa seinerzeit verbannt. Meine Mutter erinnerte gerne daran, dass Jesus Christus kurz vor seiner Kreuzigung geküsst wurde. Indem sie den Kuss des Verräters Judas erwähnte, dämonisierte sie das Küssen. Für mich eine prägende Erinnerung.

Als ich in Bayern ankam, war es, als tauchte ich in einen um sich greifenden Rausch aus Umarmungen und Küssen ein. Besonders in München umschlingen und beschmatzen sich die Menschen normalerweise, wo sie gehen und stehen. Hier muss man keine Braut sein für einen Heldenkuss. Alle busseln alle.

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Ich versuche seither, dieses Phänomen zu dekonstruieren. Mit verschiedenen Hypothesen. Eine davon: Die Deutschen müssen es sehr genau nehmen mit ihrer oralen Hygiene. Anders ist es kaum möglich, das Geruchskonglomerat aus Rostbratwurst, Bier, Kartoffelsalat und Tabak in der Rachengegend zu eliminieren. Wobei selbst der Duft nach dem Oktoberfestzelt hält die Münchner nicht von ihren Kussorgien ab.

Es gibt Stile für sämtliche Lebenslagen: Den Eidechsen-Kuss, den Ohrenkuss, den Nackenkuss, den Wangenkuss, den Zungenkuss, den Alibikuss, den Handkuss und den Luftkuss. Ähnlich verhält es sich beim Umarmen. Es gibt die Ganzkörper-Umarmung, die seitliche Umarmung oder die distanzierte Umarmung. Letztere erkennt man daran, dass zwar das Gegenüber "umarmt" wird, man selbst verhält sich dabei aber so stocksteif, dass möglichst wenig Berührung stattfindet. Diese Variante bevorzuge ich.

So gesehen bin ich dieser Tage des Social Distancings im Vorteil. Nicht nur dass ich die Kuss- und Umarmungsfreiheit begrüße. Ich kenne mich damit aus. Eine Berührung von Faust und Ellenbogen genügte in Nigeria. Die Münchner Bussi-Bussi-Gesellschaft kommt mit all dieser Distanziertheit nach wie vor schwer zurecht. Manche schauen bei der Begrüßung so hilflos drein wie eine Henne, der man eine Flasche Maismehl vor den Schnabel stellt. In solchen Momenten des Fremdschämens wünsche ich mir die Bussi-Bussi-Zeit fast wieder zurück.

Übersetzung aus dem Englischen: Korbinian Eisenberger

© SZ vom 17.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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