Im Angesicht des Todes sieht man das Erlebte noch mal vorbeiziehen. Welche persönlichen Tollwood-Top-5 wird das Kopfkino dann abspielen? Den "Zirkus Quantenschaum" mit seinen wie ein Apfel gespaltenen Publikumshälften; die mehlbestäubte, flirtende Schauspielerin im Labyrinth des "Teatro de Los Sentidos"; das sich flatulenzartig blähende Kleid der Hexe bei "Hänsel und Gretel"; den schwarzgelackten "Latex-Lachs" zur "Peter Pan"-Revue; und sich selbst bunte Riesenballons umherstupsend in "Slava's Snowshow".
Sollte es nun "Limbo unhinged" in den Todes-Trailer der Tollheiten schaffen, was würde aufblitzen? Zwei Brüste, einer Korsage stramm entsprungen, die Nippel abgeklebt, die Schlüsselbeine und Schultern eingeschmiert von einer tapferen Artistenkameradin, ein Funke, Flächenbrand auf milchiger, tätowierter Haut, ein Torso in Flammen. Feurio! Wer bei der heißen Feuerspuckerinnen-Nummer von Clara Fable die CO₂-Bilanz nachrechnet, hat wohl auch sonst nicht viel erlebt.
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Jetzt ist schon wieder Tollwood auf der Theresienwiese, für viele der Himmel der Öko-Kultur. Für andere mag das Geschiebe durchs Bio-Glühwein-Gelage die Hölle sein. Dabei ist das erst die Vor-Vorhölle zur Vorhölle. Denn die öffnet sich in diesem Advent im Spiegelzelt am Hintern des Geländes. "Limbo" ist der Limbus, das Purgatorium, das Fegefeuer, und das auch noch "unhinged", also aus den Angeln gehoben. Durch eine (funktionierende) Schwingtür schlüpft man wie durch ein Kaninchenloch in Alicens Wunderland, verspricht vor der Premiere der australische Regisseur Scott Maidment. Er hat schon dreimal hier inszeniert, 2014 die Urversion von "Limbo", und Tollwood als "eines der besten Festivals der Welt" zu schätzen gelernt.
Durch eine weitere Tür und eine Klappe in einem metallischen Laufsteg mitten im Zelt öffnen sich immer wieder Pforten in die Unterwelt, entlassen Licht, Silhouetten, Wind, Rauch, Federn und verruchte Gestalten. Für was müssen sie hier büßen? Es gibt Hinweise in den Utensilien: Haben sie Baby-Hunde mit Pfeil und Bogen gequält? Haben sie Passanten beim Straßenmusikkonzert ausgenommen? Sind sie gastronomische Umweltsünder, die im Winter Kirschen zu Blumenkohl servieren (gut, streichen wir das, das Menü schmeckt fein, die Kirschen sind angeblich eingelegte vom Sommer und aus der Region). Ganz sicher waren sie bei Lebzeiten unkeusche Narzisten oder Sadisten, so halbnackig, aufgestrapst wie sie hier herumtanzen oder an Eisenketten von der Decke baumeln.
Verwerflich? Nicht unbedingt, denn die Frauen sind hier keine Lustobjekte, sondern peitschen die Engels-Männer auch mal vor sich her (wie man kräftiger durchzieht, sollte sich Maria Monch von hiesigen Goaslschnalzern beibringen lassen). Oft ist das vorbildlich queer, einmal etwa eine neonschrille Akrobatik-Modenschau, alle umherpurzelnd in Slips und Stöckelschuhen. Freilich ist die Sado-Maso-Erotik auch Fassade, etwa wenn die Feuerschluckerin singt, tadellos eigentlich, aber ein ganzes Konzert davon wäre einem dann doch zu fad, da können der verrückte New Yorker Komponisten-Professor Sxip Shirey und seine Artisten-Musiker-Bande noch so rumpeln, stampfen, orgeln, beatboxen und bluesharpen, irgendwann wiederholt sich die Musik - angeblich Dreh- und Ent-Angel-Punkt der Show.
Was bleibt hängen? Die Lässigkeit der Artistik, die nicht durch streberhafte Leistung um schnelle Erlösung buhlt, sondern scheinbar spielerisch den Ennui im höllischen Wartebereich vertreibt: Slackline-Geschaukel, geckoartige Kraxelei an der Chinesischen Vertikalstange, ein Trio, das an Wackelstangen über den Tischen bis zu den Weingläsern hin- und herschwingt. Bisweilen bleibt man als Gast dieses Höllenspektakels etwas unbeteiligt - nicht das Schlimmste in einem Fegefeuer, in diesem Limbus aber schade.
Limbo unhinged, bis 31. Dezember, Spiegelzelt, Tollwood (Theresienwiese)